Zunehmend verlor ich den Platz auf dem Stuhl, die Grenzen des Zimmers und schließlich den Ausschnitt des Fensters. Ich glaube, ich war in diesem Zustand bereits so gut wie gestorben.
Mit den beiden Gesichtern in der Kombüse und den vorgewiesenen Schriftstücken befand ich mich im Schattenraum ihrer stillen Gewalt. Unversehens war ich nicht nur das Schiff, sondern auch die Fracht. Kaleidoskopisch gesehen, das in freien Träumen entführte Symbol meiner selbst auf fremd geschütteltem Wege. Ich meine damit auch: in Nähe der Lethe. Mein Alter spielt hierbei durchaus eine Rolle.
Das Zimmer war längst eine dunkle Kulisse, ein schwimmendes Schattenbild, in dem ich ebenso gut auf dem Kopf oder sonstwie entstellt und beiseite gerückt umherschweifen konnte. Ich lachte sogar bei dem Gedanken, ich sei mit Kopf und Kragen der Mastbaum... und tot zugleich.
Aber wie bei anderen, mir schon früher bekannt gewordenen Verwandlungen, die man, wie es heißt, zeitlos erleiden muß, falls man sie überhaupt je wieder verlassen kann, begann ich wie sinnlos in meinem Innern darüber zu streiten, wie viele Menschen auf ähnliche Weise vielleicht pro Tag oder wöchentlich so verschwinden. Ich stritt darüber sehr heftig, als bestände ich selber bereits aus zwei Personen, die völlig selbständig über unterschiedliches Wissen verfügten.
Wie lange die Ansichten so gegen einander gingen, kann ich jetzt nicht mehr sagen. Das Wesen, dessen Standpunkt mir am lebhaftesten übrig geblieben ist und das daher vielleicht den größten Anspruch auf meine Person besitzt, vertrat die Meinung, aus solchem Verschwinden und wieder Zurückkehren bestände das ganze Leben, ohne daß wir es überhaupt bemerkten. Dies bestritt energisch der andere Teil, der offenbar Angst davor hatte, der alten jüdischen Gottheit weiter als Gottesknecht dienen zu müssen. Er schrie, das sei doch eine widerwärtige Unfreiheit, eine Gemeinheit großen Stils, die nur dem Hirn eines boshaften Demiurgen entsprungen sein könnte.
Ich erinnere mich, wie standfest diese Seite die Selbstvergöttlichung Nietzsches verteidigte, „und wäre sie bloß im Wahnsinn entstanden“. Aber das andere Ich war wiederum mir, dem Kaleidoskopen, sehr zugeneigt, vertrat Jesus Christus als den lieben inneren Menschenbruder, der, um uns, seiner immer noch blinden Geschwister willen, den verrückten Vater verlassen habe. Das mildere doch ein wenig den Tod dieses Gottes als heimlichen Mord in allen Büchern und Bibliotheken des neueren Abendlandes. Wir hätten ihn an der Hand des Christus verlassen und das sei wohl etwas anderes als philosophischer Totschlag.
Später, es war bereits Nacht, trat die alte verworrene Ordnung auf unerkennbaren Wegen, bunt, verschraubt und so ruckweise wieder hervor, daß mir die Zähne nur so klapperten, das aber eher aus Freude.
Ich glaubte mich glücklich entkommen. Nur: was blieb von der früheren Selbständigkeit meines kaleidoskopischen Ego übrig, wenn meine erprobte Dunkelgestalt Wechsel von dieser Art hinnehmen mußte? Irgendwie peinlich bleibt mir besonders der Zwang über meine abgetretenen Schuhe am Bau des Schiffes.
Aber wer weiß schon, wie oft im Verfall der Wahrnehmungsfähigkeit sich tatsächlich Wandlungen dieser Art ereignen? Wandlungen, die vielleicht jeder ungeschliffene Pragmatikus ebenfalls erlebt, aber natürlich niemals für möglich hält. Daß früher der schreibende Mensch, von Heiligen will ich erst gar nicht reden, bei jedem höheren Satz die Verwandlungskräfte des Geistes am eigenen Leibe erfahren mußte, wird heute als Wahnsinn verhöhnt. Es sei in den alten Klöstern sehr viel geheult und geschrien worden, schreibt Pilatus von Savoyen, ein früher Vorläufer von Karl Marx.
Was allerdings zunächst noch für eine Weile tröstend bestehen blieb, war die harmlose nächtliche Landschaft am Ufer der Oder. Sie war mir durch meinen Fontane am Bett bis jetzt noch freundlich zu eigen geblieben und gleichsam mein prähistorisches Fundament gegenüber der Höhe der soeben erlebten Zustände. Ein Stück meiner Kunstnatur, ein heilsam durch dick und dünn mit mir wanderndes Bild der Seelenarbeit, das niemand ganz von sich abschütteln kann, so hoch er auch in die Leere der Geisterluft aufsteigen mag.
Bücher sind doch unser zweites Paradies, von uns erschaffen hinter dem Rücken aller scheußlichen Demiurgen.