Paul Mersmann: Schattenstücke l Kleine Theorien und Schattenstücke (11)

Ein Gedanke im Stile des Zöllners Rousseau und seiner künstlichen Löwen. Er befiel mich neulich unter der Kuppel eines Museums

Man bedenke im Hinblick auf die Unwissenheit unserer Kollektive, daß es für jede Schilderung, und wäre sie noch so wissenschaftlich, nie einen anderen Fassungsbegriff gegeben hat als den der Betrachtung eines Gemäldes. Man könnte tatsächlich sagen, wenn man nicht alles Gedachte und Aufgeschriebene ebenso sieht und liest, als ginge es da um Häupter, Gestalten, Gewänder und Landschaften, ja selbst um Tiere als Gäste, so schweigt selbst in der strengsten wissenschaftlichen Formel die Macht der Vermittlung und mit ihr die ästhetische Pflicht zur menschlichen Form in der Camera testa, der Stanza segreta, dem Ort der nie ganz reinen Vernunft. „Abstrakt“ entsteht nur die klinische Formel, gut gereinigt für jedes zoologische Verbrechen. Beschäftigt wird ohne inneres Bild nur das abgesonderte Gedächtnis im Zustand intelligenter Nebel, dem tierischen Vorhang moderner Brutalität, meilenweit vor der Lebensbühne der Phantasie.

Aber natürlich gilt das gleiche auch für die nächstbeste Beobachtung einer Landschaft durch den Vermessungsbeamten, oder den gelangweilten Blick vom Fenster auf den Straßenverkehr, auch er bindet nur eine Menge trostlosen Unfug an die kranke Vernunft. Immer tritt die ästhetische Blindheit ein, die durch jeden „vernünftigen“ Plan bestialisierend die Aufmerksamkeit zu beherrschen beginnt. Kein Bonnard? Kein Utrillo? Ohne die tausend Maler und Dichter im Kopf sieht niemand mehr richtig hin. Es entsteht der gleiche tierische Blick, der einen Löwen dazu bringen könnte, eine Gazelle erbarmungslos über die Stufen eines verlassenen Museums zu verfolgen, um sie dann, ohne sich weiter unter einem Bilde Poussins oder Tizians zu genieren, im Lichte der prächtigen gläsernen Kuppel niederzustrecken und zu zerfleischen.