Paul Mersmann: Schattenstücke l Kleine Theorien und Schattenstücke (8)

Aus Clevenhövers Brief an seinen Professor

[Hier wird im Zusammenhang mit einem nachfolgenden dunklen Zustand eine wichtige Übung vollzogen: Die Veränderung eines Gemäldes durch mehrfach übereinandergelegte Intuitionen aus dem Wesen kaleidoskopischer Wandlungen.]

Zunächst steht fest, daß es mitten in unserem Schatten auch Nebel gibt, feuchte, schwärzliche Niederschläge, Tuschebilder, die eine Landschaft durchfahren, als gleite ein Pinsel durch Wolken. Das haben auch schon japanische Maler erkannt. Shan-Tien hat Hokusei solche nächtlichen Striche genannt, aber weder Clevenhöver noch Englschall haben in ihrem tantrischen Eifer hier jemals ernsthaft geforscht. Ich sehe das aber anders und eines steht für mich fest, ein rein ästhetischer Schatten ist etwas ganz anderes als ein Schicksalsschatten. Was auch immer am Ende die Herren finden mögen, etwa in Wien, oder Graukauding, wohin Clevenhöver ja seinem Meister inzwischen gefolgt ist, das alles hoffe ich auch auf probatere Weise zu finden, ohne mich übrigens je vom Flecken gerührt zu haben. Nationale Schicksale und der Geist der Ästhetik sind ja wirklich voneinander zu trennen, die Ästhetik bedient sich geschickter menschlicher Hände, das nationale Schicksal der Totenköpfe.

Wenn also bis jetzt noch der Meister und sein Adept den Schatten bloß so als schwarzen Strich, als „bis jetzt noch unerforschten Schatten“ und ähnlich bezeichnen, liegen sie damit näher an Hokusei als am Wesen der blutig ernsten, nationalen Totengewänder von tiefer Schwärze, in die man in Tibet noch die stechenden Granen der Wintergerste befestigt, gewissermaßen den Leichnam zu stacheln, so rasch wie möglich aufzustehen und die Welt zu verlassen.

Aber vieles mag sich ja auch noch weiter verändert haben. Heute reiten die Herren vielleicht, wie die Taopriester im alten China, auf diesem Schatten spazieren. Lao-Tse spricht von Drachen. Aber das soll bloß ein Witz sein, der mir so einfällt. Auch drängt es mich, von überladenen ordnungslosen Bildern zu sprechen, die kürzlich auf unterschiedlich erhöhten Tafeln meines Bewußtseins ein schwebendes Schiff ins Zimmer getragen haben. Ich weiß bis heute nicht wie. Jedenfalls war mein großer bis jetzt verschwundener Schrank die neue Kombüse, in der ich den Adepten und seinen Professor deutlich erkennen konnte.

Ganz unterschiedlich sehen die Dinge ja aus, wenn man nur ein ganz klein wenig die Decke der Übereinkünfte lüftet und gleichen Augenblicks der wahre Schwung der gedankenlos schweifenden Bilder mit einem Mal offen und ungezügelt zu Tage tritt. Dann wird das Chaos menschlicher Wirklichkeit, und sei es für einen Augenblick, drohend erkennbar. Da flüchtet und schweift, überstürzt sich und schwebt das eine Bewußtsein ins andere... du lieber Gott, man kann es kaum fassen, wie viele Bewußtseinsfetzen es gibt, über die kein Mensch durch Vernunft verfügen kann.