Paul Mersmann: Schattenstücke l Kleine Theorien und Schattenstücke (7-2)

Glücklicher Aufenthalt in einer Bekenntniskammer (eigentlich Besenkammer) des Kunsthistorischen Museums in Wien: „Es gibt keinen besseren und abgeschiedeneren Ort für einen ritratto senza luce, in ultimo tempo“ ( soll hier aber nur heißen: nach 18 Uhr).

„Machtvoll auf die Schlachtbank und Spiegelscherbe der Leere geworfen verliert das gemalte Gesicht seine Tagesmiene. Es erblasst und erreicht einen stillen göttlichen Ausdruck, der vor mir nur Engeln bekannt war. Keine Angriffslust spitzt die Nase, kein Bekenntnis schwellt mehr die Lippen. Die Augen vergrößern sich und werden zu Glas, man erlebt hier Tränen aus Bernstein und Bergkristall. Jeder Austritt des Geistes scheint endlich verstopft. Die ersten Farben ersticken das Fleisch. Der Gemalte wird ernst, er schweift ab, er wird bitter, er verkennt das Leben, mißt ihm keine Bedeutung mehr zu, außer dem wenigen, was noch mächtig gebauscht an seiner Nase, im Fett der Farben zu spüren ist. Er erstarrt zu Kitsch.

Ich habe Züge gesehen, die etwa beim Übergang „zum süß errötenden Felsen der freien Stirne“ oder „zum Block des keuschesten Schweigens“ fluchtartig ihren eigenen Kopf verließen, um hinab in den Hals, in den Trost der Organe zu flüchten. Das waren Männer von großem Geschmack, die nach meiner Meinung so nicht zu malen sind. Sie haben die Welt dieser Süße auch nicht verdient. Sie werden um des Heilands willen nie weinen und nie den Ärmsten der Armen die Bonbons der Seligkeit prophezeien.

Aber es gab auch, abschweifend sage ich dies, Züge mit scharfen Kerben an Nase und Mund, die über sich selbst hinaus die Frechheit besaßen, ins Jenseits zu dringen. Berühmte Päpste zum Beispiel, die im irdischen Wahn ihr Bildnis dort oben verbreiten wollten. Aber die hohen Künste eignen sich nicht dazu, sie sollen alleine den Geist der Menschen ergötzen. Diese großen Herren konnten nicht ahnen, daß nur die einsame Kraft eines malenden Kaleidoskopen ihnen den Weg ins Jenseits hätte bereiten können. Treffender als ein Meister wie Raffael. Vom großen Kitsch der schmelzenden Zonen überfetteter Lichter, von eingelegtem Zinnober in Standöl verstehen wir mehr. Milde Götter fangen die großen Werke von Tizian gleichsam zur Strafe ein, sie sind ihnen Konkurrenz, und verspeisen sie ruhig an ihren Tischen. Da raspeln sie einen Giorgione, legen Tizians „Svelature, trenta o quaranta!“ auf englischrotes Ambrosia und verschlingen sie höhnisch mit goldenen Pinseln. Nur die Ringe und Amethysten speien sie aus, das sind sehr häufig aus Eitelkeit in die Farben gepresste Originale. (Man nannte eine solche Malweise spöttisch „separare mestiere“, also das Handwerk teilen). Aber niemals danach kehrten die frommen Väter in voller Lebendigkeit unter die eigenen Stirnen zurück, sie blieben mit klugen Mienen bloß Masken der Literatur. Was hatten sie schon geahnt von der hohen Genäschigkeit speisender Götter? Nur diese schmecken mit Lust das Fleisch der zweiten Natur.