Paul Mersmann: Schattenstücke l Kleine Theorien und Schattenstücke (7-1)

So erlebt noch jedes auf diese Weise so reich gestaffelte Ich seine eigenen Freuden in ständig verwandeltem Zuschnitt und preist die Zerrüttung aller Dinge, gleichwohl in getrösteter Heiterkeit. Mit einem Wort, es sind Kaleidoskopische Spiele. Auch das erinnert an alte Zeiten, da wir noch in den Herden gingen und dumm waren wie Stroh. Dieses Ich steht nun endlich neben der Herde und kennt sie noch sehr genau und erfreut sich zugleich seiner Freiheit.

Die Weiterentwicklung der Gestalt eines geistigen Gegenstandes, etwa nach Schopenhauer oder auch anderen, ganz unbekannten Gestalten, nennt man wegen der egozentrischen Bedingungen den göttlichen Manierismus, und er ist im deutschen Zimmer schon häufig gelungen. Ich habe da graue Bilder gesehen, köstlich und zart, Gemälde des Denkens, die als schwebende Werke einen Kettensatz prophetischer Worte erzeugten, der von der doppelten Länge des Erdballs war und den ich in hundert Jahren nicht hätte nachsprechen können. Doch auch die blitzartig kurze Erleuchtung zum Bau eines winzigen Ofens, kleiner als ein Reiskorn, in welchem der Teufel lächelnd und trostreich regieren sollte, wurde mir anbefohlen und siehe da, es gelang vorzüglich. Oh ihr guten Alchimisten, auch das ist in diesem Zimmer schon vorgekommen. Ich schwöre, des Teufels Zepter war kleiner als ein aufrecht wandelnder Bazillus. Denn gelingt die vollendete Form, bei völliger Abwesenheit der alten Vernunft, so spendet ein gewisses „Prinzip“ hoch über der Decke des Zimmers dem schwärmenden Ich einen großen Nebel, den „Nebel berauschender Ehren“. Mag solch ein Augenblick auch nicht sonderlich meßbar sein, so wird der Poet dieser Dinge zu einem „Kurzmeister“ oder Poeta laureatus minimus erwählt, und das kann manchmal sogar für die ganze „Unendlichkeit“ gelten.

Für meine Arbeit an dieser Stelle erhoffe ich mir in einigen Wochen, wenn mein Unternehmen zur Reife gelangt ist und der Schatten durch meine Worte seine wahre Gestalt angenommen hat, nichts höheres als einen anderen schönen Titel, nämlich den eines „Kurzmeisters im Nebel“, nicht mehr und nicht weniger. Zuende kommt man bei keinem dieser Rätsel und das ist schon der große Nebel. Nur der zusammengeschüttete Traum, verworren, von Gitterstäben durchkreuzt, hinter denen sich tierische Ahnen drängen, wird der Schwärze des Schnees in seiner sich wandelnden Tiefe halbwegs gerecht. Aber auch nationale Wurzeln, so dick wie Rüben, hat mir neulich ein junger König, ein Prinz von Preußen, polternd ins deutsche Zimmer geschleppt, wie er übrigens auch, als Reichsadler schwebend, mir mehrmals Abstieg und Aufstieg des Reiches vorgeführt hat. Das waren kühne Stürze von Felsen, flatternde Wut auf ferne Beute, Geklapper des Schnabels, tiefe Blicke über den Rhein, der zum grün gefiederten Abgrund Germaniens wurde. Das alles ist wahnhaft und ehrenvoll, weil diese Flüge magische Kräfte besitzen, die nicht nur in Künstlern meines Grades Erleuchtung erwirken, sondern seltsamer Weise auch alte Waffen, an Wänden befestigt, Pistolen, Kanonen und Säbel zum Klirren und Donnern bringen.

Ach, überhaupt die Germanen (besäße ich doch nur eines ihrer langen Schwerter, „coltelli di mangiare“, ich würde feierlich eine Thüringer Bratwurst damit essen).

Ich sah bei einem dieser Luftstücke Kerle auf Adlern reiten, während die Weinberge Bacharachs grün in der Tiefe glänzten. Genau wie auf Kitschpostkarten aus der Zeit vor dem ersten Weltkrieg. Dabei sangen sie mehrstimmige Lieder unter plötzlich ausbrechendem Gelächter.

Bei so einem Anblick bleiben wir Kaleidoskopen das, was wir oft, von Unwissenheit geschüttelt, überstürzt von unerlaubten Erscheinungen, immer schon waren, einsam vom deutschen Schicksal besetzte Facetten. Und geschähe das ganze Wesen bloß aus Gründen der Kurzweil, als phantastische Unterhaltung, wie Schopenhauer, nicht ohne Neid, vom Sinn aller „Superstitionen“ gesagt hat. Wir sind das geheime Reich, seine unerschöpflich schreibende Quelle, und so sicher prophetisch, wie nur die Gipsmadonnen Wunder bewirken und Tränen vergießen können.

Michelangelos Pieta kann niemals ein Wunder bewirken, sie birgt keine innere Überraschung. Sie ist ganz und gar ihr eigenes Wunder, sie leitet Magie nicht ab. Zu jeder Magie gehört eine gute Prise von Kitsch vom Stil der erlösten Liebe, usw. usw.