Ulrich Schödlbauer: Homomaris oder die Geburt der Bilder [70]

Der analytische Konstruktivismus der russischen Schule, das machen die Schriften El Lissitzkys oder Kandinkys hinreichend deutlich, pflegte die Vorstellung, es gebe in der Kunst wie in allen Medien, in denen sich Wahrnehmung ausdrückt, einige Grundelemente (Punkt, Linie, Fläche, Licht), aus deren Analyse sich das gesamte Feld der künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten erschließen lasse. Diese Analyse ist keineswegs als Selbstzweck gedacht. Sie dient der Schaffung einer wissenschaftlich gereinigten und gleichsam ›gesicherten‹ Kunst. Die Lehre gestattet zwar interne Korrekturen und einen schrittweisen Ausbau, kann aber als Grundlage aller nicht-dilettantischen Kunst nicht mehr in Frage gestellt werden. Kandinskys Bauhausschrift Punkt und Linie zur Fläche von 1926 bietet einen guten Einblick in dieses Denken. Die Verwandtschaft zum Logischen Positivismus und zur frühen sprachanalytischen Philosophie liegt auf der Hand. In der analytischen Philosophie wie in der Erkenntnistheorie allgemein wird diese Form des Reduktionismus seit langem nicht mehr vertreten. Sie findet aber einen starken Rückhalt im Lehrbetrieb und seinem Bedürfnis nach einführenden Darstellungen. Ein beliebig herausgegriffenes Zitat (Benjamin H. D. Buchloh) mag demonstrieren, wie sich, von ihr ausgehend, ein mechanisches Bild der Kunstentwicklung zeichnen lässt, das die wohlbekannte Figur des Künstlers als Technikers und ›Ingenieurs‹ der menschlichen Psyche hütet:

»The metamorphoses of drawing in Warhol's œuvre recapitulate all the radical transformations that traditional drawing had been subjected to in the twentieth century: from the line that figures the hand of the author and the figure to the subject to a line that is anonymous, lifeless and mechanical, seemingly the mere printout of a mechanical matrix, or of an optical projection (the old overhead), or the imbecile tautology of tracing an always already given line prescribed in the design of objects.«