Vermissen und Überfluss
Aus philosophischer Sicht wirkt die platonisierende Rede von der zweiten Natur der Kunst naiv. Als eine Apologie der Malerei, des zurücklaufenden Entwurfs, der elliptischen Bahn eines melancholischen Gesehenhabens, das sich in keinem Gesehenen mehr beruhigt und deshalb Vorräte anlegt, in denen das Unvorhersehbare im voraus Gestalt annimmt, verteidigt sie weniger ein Tun als ein Sein. Das gibt den ästhetischen Auseinandersetzungen, wo sie aufbrechen, das Eruptive, das ›Konvulsivische‹, von dem Bretons Schönheitsformel spricht. Hier verwahrt sich eine Schönheit gegen die andere, die Schönheit der Stunde, die von weither kommt, gegen die Schönheit des Tages, der immer Recht behält, weil er es sich nimmt. Aber der Gegensatz enthält auch ein fiktives Moment. Beide Seiten bewohnen den gleichen Tag und beide kommen aus einer Vergangenheit, die nicht vergeht. Dass man Vorräte an Kunst anlegt, ist nichts Besonderes, es geschieht alle Tage. Die Sammlerleidenschaft ist aus der Kunst nicht fortzudenken und wird von ihr auf jede erdenkliche Weise bedient. Dass man Vorräte im einzelnen Kunstwerk anlegt, ist schwerer zu begreifen. Es wird dadurch zu einer Art Speicher, in dem eine vorab vergangene Kunst sich an den Resten einer unzugänglich gewordenen Vergangenheit mehrt. In den Bildern der Imaginären herrscht ein Überfluss, den der Blick aus dem Fenster, der Gang durch ein Neubauviertel oder eine wieder aufgebaute Innenstadt schmerzlich vermisst. Das Vermisste ist die zentrale Kategorie, wenn es um das Verstehen jener Bildwelten geht. Sie umfasst die verschwundenen Menschen, die verschwundenen Straßenzüge und städtischen Orientierungen wie die Gegenstände des täglichen Bedarfs, sicher in unterschiedlicher Weise und wechselnder Intensität, aber mit der gleichen Unumgänglichkeit, mit der das Leben seinen Gang geht. ›Vermissen‹ ist eine Vokabel der Orientierungslosigkeit, die ihrerseits Orientierung gibt. Vermisst wird, was da ist, ohne da zu sein. Wer vermisst und diesem Umstand Ausdruck verleiht, verleiht einer Blindheit Augen, er wird sehend, ohne zu sehen. Wer nicht vermissen darf, weil ihm Zeit, Ort und Umstände Mund und Seele versiegeln, wer nicht vermissen will, weil er sich neu orientiert hat, hält das Vermissen nicht auf, er verbannt es in die lichtlosen Bezirke, von denen Baudelaire in L'Irrémédiable gesprochen hat –