Ulrich Schödlbauer: Homomaris oder die Geburt der Bilder [27]

Man hat lange nicht sehen können, wie sehr das Vermissen eine Kategorie der Moderne ist, weil das Modernsein selbst es zu verbieten schien. Wer ›das Alte‹ vermisste, schien nicht ganz ein Kind der Epoche zu sein, so als stehe es im Belieben des Einzelnen, aus ihr herauszufallen und sich in einer anderen Zeitrechnung zu bewegen. Die Verschwundenen des staatlichen Terrors, der modernen Kriege und von Menschen induzierten Naturkatastrophen belehren uns eines Besseren. Weder ist es möglich, aus seiner Epoche herauszufallen, noch ist es möglich, nicht zu vermissen. Nichts charakterisiert Moderne schlagender als die doppelte Zeitrechnung, die sie einführt, und die entsetzlichen Geschichten von Müttern, die, ihr im Bombenkrieg getötetes Baby im Koffer, weitab vom Ort des Geschehens herumirren, sagen mehr über sie aus als die Rede vom unvollendeten Projekt, die jeden Verlust abdunkelt, weil sie Unbetroffenheit signalisiert. Gebombt wird noch immer. Wie das neue Bauen die Orte versiegelt, an denen das Schreckliche geschah, so versiegelt die schattenlose Kunst des selbstbezüglichen Konstruktivismus die Orte intensivierten Sehens, die eine untergegangene, aber nur partiell vergangene Kunst bereitgestellt hatte. Auch die Kunst ist eine Vergangenheit, die nicht vergeht. Die dritte Moderne, der dritte Versuch, mit einem Wurf die volle Augenzahl zu erreichen, räumt den Heroismus des Scheiterns beiseite und ersetzt ihn durch vielsagende, aber stumme Gesten. Die Rückkehr der Scham ins Zentrum der Kultur, die je nach Partei und ›Standpunkt‹ partiell abgedunkelte Einsicht in die begangenen Menschheitsverbrechen verändert das Wahrnehmungsgefüge von Grund auf. Wer in dieser Situation an die Rampe geht, wer den Straf- und Sittenprediger gibt, überhebt sich leicht, obgleich niemand und nichts ihm widerspricht außer den kleinen Gesten der Abwesenheit, des Zerstreutseins, in denen das Bewusstsein sich sammelt wie ablaufendes Regenwasser nach dem Gewitter.