Ulrich Schödlbauer: Homomaris oder die Geburt der Bilder [22]

Mersmann macht sich davon. Er geht nicht in die Metropolen, jedenfalls nicht dahin, wo gerade ›etwas geschieht‹. Er begibt sich dorthin, wo man jahrhundertelang in Europa das Malhandwerk erwarb und sehen lernte, nach Italien. Was sich da ereignet, folgt den Weisen des Zurechtrückens, des Eigen-Werdens, also dem klassischen Schema, aber im antiklassischen Material. Er wird, auch das nichts Besonderes in jenen Jahren, Manierist. Zufällig trifft er auf einen Theoretiker des Manierismus, Gustav René Hocke. Das Leben ist sparsam mit Winken, bleibt die Frage, was einer daraus macht. Der Kern dieses Manierismus ist die Verrätselung, die sich der Enträtselung der Welt energisch entgegenstellt. Man ist kein Manierist, wenn man der Komplexität der Welt mit komplexen Formen zu Leibe rückt, weil man glaubt, dass man sie nur so angemessen darstellen kann, man ist es erst dann, wenn man mutwillig die Komplexität der Welt vergrößert. Der Manierismus treibt die Vielschichtigkeit der Bedeutungen ins Abenteuerliche. Dabei stößt er auf die Schwierigkeit, dass sie nicht auf ihn wartet und die Möglichkeiten des Künstlers von Anfang an übersteigt. So kommt es, dass die hermeneutische Anstrengung des Begriffs den künstlerischen Ausdeutungen überlegen ist, da sie weder Werk noch Abschluss intendiert. Die Komplexität des manieristischen Bildes ist ›gegriffen‹. Sie beruht auf Kombinationen, in denen Willkür, erprobtes ›Geheimwissen‹ und eine als Schwermut getarnte Ironie Hand in Hand gehen. Das macht sie dem Schwermütigen leicht: hinter der Maske der Schwermut geht es ihm gut. Die Unausweichlichkeit der Schrecken verlangt nach Bedeutungen ohne Sinn. Sie sind deshalb nicht sinnlos. Eher ließe sich sagen, sie konturieren eine konturlose Welt, die sich unaufhörlich mit der konturierten Welt der Formen und sinnlichen Eindrücke mischt. Es hat den Anschein, dass beide einander durchdringen, ohne sich zu berühren – eine Geister- und eine Körperwelt, eine Realität ersten und zweiten Grades. Aus der Sicht des Melancholikers ist die zweite kostbarer als die erste, kein Wunder, da es sie nach individueller Formung verlangt. Die erste hingegen wirft kein Formproblem auf, das sich nicht durch Technik lösen ließe. Unbeschadet der Tatsache, dass auch eine manieristische Fotografie existiert, trennt die Kamera in der Hand des Künstlers den Realisten vom Manieristen. Das Prosagedicht widerlegt nicht die Differenz von Vers und Prosa.