Ulrich Schödlbauer: Homomaris oder die Geburt der Bilder [2]

Im Kunstsehen schließen sich zwei konkurrierende Arten partieller Blindheit zusammen. Aus ihrem Zusammenspiel erwächst das Ungesehene – und Unerhörte. Letzteres kann das unerhört Gute sein oder eine misshandelte Fläche, auf der, wie angestrengt man sie auch betrachtet, ›sich nichts erkennen lässt‹: das ist vollkommen gleichgültig. Das bloße Sehen ergibt kein Bild, es bleibt blind gegen die Möglichkeit zu urteilen. Auf der anderen Seite bringt das im voraus bestochene, das urteilswillige Sehen seine Assoziationen bereits mit. Es bezieht sie aus allen Ecken einer mit Schemen gefüllten Vorratskammer, Urteilsreste haften daran wie lose Fäden, die sich jederzeit neu verknüpfen lassen. Auch dieses Sehen ist also blind, zumindest gegen das bloße Sehen, dem es kein Eigenrecht einräumt und das es, sobald es ernst wird, nur insoweit zur Kenntnis nimmt, als es ihm erlaubt, die blinden Flecke der Wahrnehmung aufzufüllen. Man hat Kunst gesehen, auch wenn man nichts gesehen hat, und man hat keine Kunst gesehen, selbst wenn man eine Menge gesehen hat. Wer daraus schließt, es sei müßig, seine Zeit mit der Betrachtung von Bildern zuzubringen, der befindet sich auf der sicheren Seite.

Unter den Müßigen ist der Maler ein Gott – jedenfalls, sofern er es nicht vorzieht, Prophet zu werden und dem Müßiggang wenigstens teilweise zu entsagen. Auch er ist blind, aber er sieht die Möglichkeiten, die in einer Ausführung stecken. Das Organ, das ihn sehend macht, ist der Pinsel: das dritte Auge. Zu seinem Kummer trägt er es nicht auf der Stirn. Die Hand, die einen Pinsel hält, kann ihn auch weglegen. Dann steht der Künstler vor den Bildern wie ein anderer auch. Malersein ist nichts Besonderes, sobald einer das Utensil beiseite lässt, das ihn dazu macht. Auch diese bescheidene Einsicht muss von Zeit zu Zeit realisiert werden, auch sie kann, wie jede Einsicht, verloren gehen. Dann zählen andere Dinge, die schnell aufgezählt und ebenso schnell vergessen sind. Aber wenn der Pinsel zählt, dann ist jeder Kult um ihn verständlich und gerechtfertigt in einem. Der Malkult fungiert als Vermittlungsinstanz zwischen dem Malerhirn und dem notwendigen Utensil, er ist die unsichtbare Hand, die neben der sichtbaren ins Spiel kommt. Erst das Werk beider Hände lässt entstehen, was Mersmann ›Peinture‹ nennt, die fette Malerei diesseits der Motive und Proportionen, der Auswahl und Zusammenstellung der Farben und diesseits der Abstraktion.