Ulrich Schödlbauer: Homomaris oder die Geburt der Bilder [85]

Was ist geschehen? Der Rammstoß blieb aus, die Insel des zweiten Gesichts mit ihren Relikten aus einem aufgeklärten Ancien Regime, dessen Spuren sich bis nach Amerika verfolgen lassen und dessen Hinterlassenschaften auf europäischen Schlachtfeldern verwittern, ihren Seiden- und Apothekervögeln, ihren heilsamen Schlangen, ihrem alexandrinisch genannten Mix aus Sinnlichkeit und Magie, aus Betörung und Gelehrsamkeit, aus Sichtbarem und Unsichtbarem, den Blicken entrücktem, unsichtbar Sichtbarem, in ihrem Zentrum die heile Frau, vielleicht eine Heilige aus einer Zeit, die nur das Zeugnis der Sinne zulässt, wenn es um Zeugenschaft geht, – diese eine Zeitlang vor den Blicken der Menschen verborgene Insel kehrt zurück ins Bewusstsein der Zeit, was immer sie dort erwartet. Nichts Gutes vermutlich, aber damit hat die Kunst zu leben gelernt, seit es sie gibt. Man beachte den Weidenkorb, der sich neben der Freiheitsfahne des Mutes und der Poesie hoch in den Himmel hebt: Es ist derselbe, in den auf dem Place de Grève die Köpfe der Guillotinierten fielen. Von diesem Anblick ziehen sich die Linien, unsichtbare und sichtbare, deutbare und scheinbar deutungsresistente, in das weitere Werk Mersmann hinein. Wer ihnen folgt, kann nicht fehlgehen – er findet, was er vielleicht nicht gesucht hat, was aber in Andeutungen überall präsent ist: in der gedrängten Weiträumigkeit der großen Kompositionen, der tapferen Handhabung des Pinsels, der, wie der Maler über den Rembrandts gesagt hat, »in farbreich schmelzende Öle getunkt, wahrhaft köstliche Speisen der Malerei auf die Leinwand gebracht hat«, in den Phantasmen einer souveränen Einbildungskraft, der niemals verloren geht, was andere sich mühsam erarbeiten, der Kontakt zur wirklichen Welt, zu dem, was vorgeht, der grimmige oder sanfte Mut des Zeitgefährten, der die Verluste kennt.

Es gibt auch eine andere Deutung des Bildes. Danach gleitet die zauberische Insel, entfernt dem Floß der Medusa vergleichbar, unwiderstehlich fortgetrieben vom Anblick der neugier- und waffenstarrenden Invasion von Kommerz und Konsum, durch unbekannte Gewässer jenen unbekannteren entgegen. Was die Künste treibt, bleibt ebenso vieldeutig wie das, was sie treiben. Wer von Zeitströmungen spricht, sollte sich in Acht nehmen, dass ihn das Bild nicht entführt – auf Sandbänke oder in seichte Gewässer, in die manche gern folgen, andere nicht. Besser wäre es, nach dem tragenden Strom zu fragen, von dem oben die Rede war.