Paul Mersmann: Die Nachtwachen des Bonaventura. Nachwort [3]

Vollendet wird der Gedanke der Welt als Täuschung erst unmittelbar nach Klingemann durch Schopenhauers Buddhismus ernst und pessimistisch verstanden. Die persönliche Schuld kann am Ende eines langen und blutigen Wahrheitswahnsinns bestrafter Kollektive nun endlich auch karmisch begriffen werden. Es ist zu erkennen, dass die Schuld jedes Einzelnen als ein selbst geschaffenes Schicksal erfasst wird und nicht mehr als Wir nach der Liste göttlich verfügter Sünden.

Es geht um freiwillige Einsicht. Das alte religiöse Netz trifft die geheimen, persönlichen Taten ebensowenig wie das Bürgerliche Gesetzbuch die Seele. Klingemanns Werk steht tatsächlich, als früh begriffenes Lebenstheater bis heute kaum folgerichtig erkannt, vor einer neuen Stufe des Selbstbewusstseins.

Der Geist, der über den nahezu ungeordnet zusammengewürfelten Volksstücken schwebt, zeigt sich auch als ein letztes chaotisches Unheil in einem gebrochenen Glauben an die gottgewollten weltlichen Mächte mit ihren geängstigten Opfern.

Wir erleben in den Nachtwachen den ersten literarisch überaus farbstarken Zusammenbruch dieses Glaubens in unerhörter Schutzlosigkeit. Bisher im moralisierenden Gotteschaos zu immer neuen Bildern von Schuld und Buße, Erlösung und Tröstung aufgerufen, bleibt hier das Leben jedes verunglückten Schauspielers bloß einer Masse von Texten verpflichtet.

In solchen Sprüngen und Brüchen gilt dieser Zustand im großen Ganzen sogar bis heute.

Ohne sich seiner aus Zweifeln erwachsenden widersprüchlichen Eskapaden zu schämen, schüttet Bonaventura die Menge seiner traurigen Beispiele auf die Bühne und überlässt sie dem Schicksal, das ein als Irrer verstandener Gott willkürlich genug verhängt hat.

Von der Liebe bis zur Flucht in den Tod wird alles zunächst in einfacher Kürze und geradeheraus vorgestellt, gleichsam auf den Fässern und Brettern, die Goethe genannt hat, um alsdann rasch als Irrtum und tückischer Zwang eines immerwährenden Dramas gedeutet zu werden. Hier fehlt es nun nicht an gefährlich erheiternden Geistesblitzen, die ein zuckendes Licht verbreiten.

Bei der Illustration dieses Textes war mir an keiner persönlichen Ausschweifung und Freiheit gelegen. Der leidenschaftliche Spott und die dicht gedrängten Szenen hätten sich durch bildhafte Deutungsversuche nur allzu leicht voneinander entfernen können. Der überall ausgestreute Gedankenreichtum widersprach ganz einfach den Mitteln der Malerei. Ein Text, der so rasch zwischen großen Gedanken und bunten Ereignissen wechselt, vermischt eben überall ganze Buchstabenfelder mit derben Schicksalen, die zusammengenommen malerisch kaum zu fassen sind. Es empfahl sich eher ein Bilderbuch, das selbst noch die Karikatur erlaubt.

Lichtel, am 22. Dez. 2010