Paul Mersmann: Die Nachtwachen des Bonaventura. Nachwort [2]

Indessen wenn Bonaventura das Elend des Menschentums fest gebannt in Bühnenkulissen zeigt, ist weder Vernichtungs- noch Erneuerungswille spürbar und die lebhafte Resignation bleibt immer eine Quelle der Phantasie.

Im romantischen Künstlertum Bonaventuras fehlt ohnehin ein theologisches Jenseits und wenn es auftaucht, wie bei dem sehend gewordenen Blinden, dann im Rausch einer Kunstnatur in romantisch entflammten Bildern des Pantheismus.

Aber wie es Klingemann wagt, den alten erratischen Schatten der Genesis in einer neuen, längst fälligen Bühnenrolle auftauchen zu lassen, so ist es den anderen radikalen deutschen Denkern und Theologen wie Luther, Böhme und Müntzer niemals eingefallen.

Ihn im Tollhaus als irren Vater einer verpfuschten Schöpfung zu zeigen, um auf diese Weise über den roh geschnitzten, widersprüchlichen Stammesvater zu spotten, bleibt ein erstaunlicher Schritt bis heute.

Seine Deutungen vor dem Arzt verspotten noch die aus diesem Gott gezogenen Dogmen zeitgenössischer Philosophen und sind schärfer als die Äußerungen des kindischen Gottes selbst, der in all seinen komischen Selbstzweifeln denn doch eine Milde erkennen lässt, die in den Auttritten seines dunklen Vorbildes so gar nicht vorkommt.

Der Leser begreift fast lustig den infernalisch geerbten Wahnsinn der hundertmal verbogenen Glaubenskulluren Europas aus dem Fundus eines kindischen Gottes.

Als Theaterdirektor am Ende nicht ernsthaft einer neuen öffentlichen Wahrheit verpflichtet, steht Bonaventura der Metaphysik, der Religion und der Philosophie nicht wirklich im Wege. Alle großen und kleinen Wahnideen der Welt sind ihm schließlich auf seiner Bühne willkommen gewesen. Er denkt kaum wirklich daran, die alten Geistesbilder durch neue »Wahrheiten« aufzulösen, wie Nietzsche es immer gewollt hat. Hier eben ist Nietzsche den sogenannten Fakten ganz anders verpflichtet, radikal und wirklichkeitsgläubig zugleich. Von solchen Ansprüchen lässt Bonaventura als echter Künstler die Finger. »Ich kann alles gebrauchen«, hat Thomas Mann als Künstler einmal sehr treffend zum Thema der kritischen Auswahl gesagt. Und so hat sich denn auch wohl Klingemann kaum als Welterlöser gesehen.

Ja man kann sich gut vorstellen, dass er einst beim Lesen Dantes, vom Zirkelschlag des ewigen Geometers und dem Heil unfasslichcn Lichtes begeistert, eher an einen Deus ex machina ersten Ranges gedacht haben wird als an Erlösung, und bei der Lektüre der unterschiedlichen Strafen göttlichen Hasses, die brennend und wabernd in den Bühnengrotten der Finsternis leuchteten, wohl kaum an die eigene Verdammnis.

Aber ein wahrhaft infernalischer Stoff, wie ihn erst vor wenigen Jahren Giorgio Manganelli so unübertroffen geschildert hat, war doch wohl erst nach einem vollständigen Bruch mit der alten Welt kollektiver göttlicher Strafen möglich.

Den vielen in ihrer Sprachkraft bedeutenden Köpfen seiner Epoche stand noch stets der unfassliche Gott der unfasslichen Liebe, der Bußherr unlöslicher Strafen als dunkles majestätisches Rätsel mit hemmenden Deutungsgeboten im Wege. Erst hinter dem Weltenschicksal, wie es Bonaventura als Theater begreift, zeichnet sich allmählich die neue, die als künstlerisch zu bezeichnende Unschuld der menschlichen Kollektive ab. Ohne den Maßstab göttlicher Wahrheit bleiben die Menschen Bonaventuras doch wenigstens allesamt arme Teufel und Schauspieler in einer verwilderten Schöpfung. Mitleid mit allem Leben heißt am Ende vielleicht die neue geheime Botschaft, wenn die Bühnenlichter erloschen sind.