Walter RüthGRAB_ART 3: Chapeau, Monsieur P.M. | |
Walter Rüth: Chapeau, Monsieur P.M.: Arbeiten 2008, neue Serie | |
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Raymond Verdaguer A question of will: SALUD MENTAL Es ist die Enge auf den Bildern Verdaguers, die unmittelbare Gegenseitigkeit der einzelnen Elemente, die eine Dynamisierung und Kontrastierung der Betrachtung auslöst. Verdaguer agiert im zeitlosen Jetzt. Die Interferenz im Bildraum wird zur Durchdringung unseres Lebensraumes - der Bildraum ist Lebensraum. »Inundación« unterspült ihn, überschwemmt ihn. El Niño, Vorbote der großen Flut, ist nicht allein ein Klimaphänomen, die soziale Koexistenz von Mensch und Natur bestimmt die Suche nach »Salud Mental«. Was wirkt hier zusammen? Die Globalisierung der Finanzmärkte und die Sucht nach der Kapitalisierung von Humanressourcen - »Banco« - stellt Lebensräume in Frage, stürzt lebensweltliche Freiheiten - »Libertad« -, zerstört und erzwingt Brücken - »Puente«, »Perro« - zwischen Mensch und Menschen, zwischen Mensch und Umwelt. Und es ist die in Ketten gelegte Natur - »Prision« -, die zum Absturz - »Caida« - führt. Die Antwort auf die »Question of will« und die endgültige Beseitigung der existenziellen Armut unserer Welt - »eradicating poverty« ist mit Verdaguer so einfach wie nachdrücklich: »dumping rice« und »smash tanks« und ein Ende des »stuck«. Verdaguers Linolschnitte radikalisieren das Medium, sie schneiden (sich) ein: in unsere Wahrnehmung der Welt, in die Fragen, die wie perpetuierende Evidenzen täglich vor uns aufscheinen, scharfkantig. Nicoletta Wojtera | |
Raymond Verdaguer: End to poverty: Arbeiten 2008 | |
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Zeng Mi: Gesprächsnotizen | |
Notizen
über ein Gespräch mit dem chinesischen Tuschemaler
Zeng Mi, geführt am 16. Oktober 2007 in Hangzhou/Zhejiang Gertraud Sommer Zeng Mi, geb. 1936, lebt in Hangzhou in der südostchinesischen Provinz Zhejiang, die bis heute ein lebendiges Zentrum der chinesischen Tuschemalerei ist. Die Meister dieses besonderen Zweigs chinesischer Malerei haben deren große Tradition nach der Kulturrevolution wieder aufgenommen. Die hochentwickelte, höchst anspruchsvolle spezielle Technik der Tuschemalerei haben sie in ihrer Jugendzeit erlernt, für sich weitergeführt und geben sie an ihre Schüler weiter. In China gilt die Tuschemalerei weitgehend bis heute als die eigentliche Äußerung seiner unverwechselbaren Kultur. Diese Malerei hat sich nie im Lauf ihrer Geschichte den Tagesthemen zugewandt. Ihr Sinn war in keiner Weise, die äußere Wirklichkeit nachzubilden oder auch nur zu spiegeln. Wenn Zeng Mi sagt, er philosophiere mit dem Pinsel, so ist damit nicht ein intellektuelles Durchdringen der Wirklichkeit gemeint. Sein Schaffen beruht auf der Öffnung für die Wirkensweise der kosmischen Grundkräfte – einem Vorgang, der Intellekt und schöpferische Anschauung gleichermaßen in Anspruch nimmt und der höchste geistige Konzentration erfordert. Er sieht tiefe Entsprechungen zwischen der Ordnung der Welt und dem Wesen des Kunstwerks. Malen heißt, mit dem Pinsel in das Geheimnis von Werden, Verwandlung und Vergehen einzutauchen und parallel zu den Kräften des Kosmos zu schaffen. »Das große Bild ist ohne Form« sagt Laotse. Der chinesische Tuschemaler bannt nicht Gegenstände aufs Papier, er lässt Bewegung und Verwandlung erfahren. Ort der Verwandlung sind die unbemalten Stellen der Bilder, die geheimnisvoll, vieldeutig und eigentümlich wirkungsmächtig sind. Sinnbild dieser Erfahrung ist der Kreis, »die Mutter der zehntausend Dinge«. Der Kreis liegt Zeng Mis Bildern zugrunde. Der Betrachter ist eingeladen, sich in dieses Kreisen einzulassen. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, warum Zeng Mi für unsere Fragen nach dem Einfluss der gewaltigen Veränderungen in seiner äußeren Umgebung auf seine Malerei kaum Verständnis hatte. Wir Deutsche waren schon beim Anflug auf Hangzhou tief beeindruckt gewesen, verstört und gleichzeitig hingerissen von dem völlig veränderten Aussehen der Stadt, die wir vor 16 Jahren zum erstenmal betreten hatten. Die im Westen allgegenwärtige Forderung, dass Kunst unmittelbar auf die Umbrüche der Zeit zu reagieren habe, bewegt jedoch den chinesischen Maler nicht, soweit er durch die weltanschauliche Prägung seiner Kultur gegangen ist. Auf die Frage, ob die Veränderung der Städte, die zum Teil brutal verläuft, auf seine Malerei wirke, antwortet Zeng Mi: »Chinesische Maler spiegeln nicht die moderne Entwicklung«. Für Zeng Mi besteht kein Unterschied zwischen Natur und Menschenwerk, da der Mensch wie alle Erscheinungen eine Hervorbringung des Kosmos ist und sein Werk seinem natürlichen Wesen entspringt. Die Hinwendung chinesischer Maler zu westlichen Gestaltungsprinzipien empfindet er als wesensfremd, als sklavisch. Sein Suchen gilt dem Namenlosen als dem Quellgrund, aus dem das Sichtbare in ewigem Wandel hervorgeht – eine Aufgabe, die die Umbrüche noch mancher Zeit überdauern wird. | |
Zeng Mi | |
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Blicke auf das (Un-)Sichtbare | |
Blicke auf das
(Un-)Sichtbare Nicoletta Wojtera Der Blick stellt die Frage nach der Wirklichkeit, er fragt nach der Kontingenz der modernen Welt, nach ihrer Auflösung im Außenraum und der anderen Wirklichkeit des Sehens. Die Wirklichkeit spielt mit diesem Blick – sie widersteht ihm, sie widersteht ihm nicht. Sie behält sich ihren Spiegel vor, den (Wider)Schein. In der Metamorphose des Blickes diskutiert sie die Wahrnehmungsklischees der äußeren Welt und der inneren Bilder. Die Wirklichkeit lädt zum Sehen ein und fordert zum Schreiben auf, zum Schreiben mit Licht. Doro Breger schreibt in ihren Bildern vom Finden dieser Wirklichkeit. »Die Fenster« spielen mit ihrem Paradoxon, sie bieten dem Betrachter Halt in der Entgrenzung. Die Möglichkeit einer Polyvalenz von Wirklichkeit wird im Nichtsichtbaren sichtbar – für den, der sieht. Was sieht? Das Sehen beginnt in einem Innenraum; es ist ein bekannter, ein gewohnter Innenraum. Er irritiert den Blick nach innen nicht, wohl aber den nach außen. Die Fenster sind geöffnet und sie eröffnen das Spiel der Wirklichkeiten im Außenraum. An der Schwelle zwischen innen und außen, in den Glasscheiben der Fenster, findet der Blick einen ersten Halt, die Andeutung einer Sicht nach außen. Doch dieser Halt ist nur scheinbar, er verliert sich in der Weite möglicher Wirklichkeiten. Hier ist die Welt wandelbar, sie verzerrt den Blick und überlagert ihre Ebenen. Die Konvention der Wahrnehmung löst sich auf, muss sich auflösen, um die Interferenz scheinbar divergierender Elemente zuzulassen. Doro Breger inszeniert Sehen als Vermögen, als Fähigkeit zu einem mehrschichtigen Blick auf die Welt und als Aufforderung äußeren Widersprüchen eine innere Verwobenheit zu geben – »Das Fenster steht offen, du kannst es schließen, es steht offen«. | |
Doro Breger / Lucius Garganelli: Die Bilder (2008) | |
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Über Grab_art | |
1. ›Grab_art‹ nennen wir das Ergreifen dessen, was auf jede erdenkliche Weise das Wirkliche heißt und gerade darum nur ergriffen werden kann, so wie es selbst an einem Morgen ergreift, den man im Gedächtnis behalten wird. So jedenfalls stellt sich dieser Morgen dar und ist verschwunden, sobald der Mittag naht, der andere Genüsse und Seltsamkeiten bereithält. Das Ergriffenwerden und das Ergreifen hängen miteinander zusammen, aber sie gehen nicht auseinander hervor. Erst der Entschluss ist es, der den Auslöser der Kamera betätigt oder die Gelegenheit ergreift. Diesen Entschluss zum Ausgangspunkt einer langen Geduld zu machen, das wäre wohl die Kunst des Wirklichen, die es nicht gibt, jedenfalls nicht so, wie sie sich der eine oder andere vorstellt. Wir sind Menschen, wir sehen Formen, wir sehen sie in das hinein, was wir das Wirkliche nennen, und sie befähigen uns, uns ihrer zu ›bemächtigen‹. Die Sprache der Geometrie ist eine wirkliche Sprache, die von den Weltdingen redet, wiewohl stumm. Es ist eine schweigsame Welt, eine Welt vor der Welt, die sich da auftut. Die Sprache der Kunst hingegen ist immer redend. Das schließt die Fotografie ein, die mit der Geometrie manches gemeinsam hat und in mancherlei Weise ihr Kind ist und bleibt. Aber auch die Kunst, die den Apparat verschmäht, verdankt der Geometrie vieles, wie der beispiellose Aufstieg der Perspektive einst zeigte, den die Moderne mit Schmähungen überzog, auch wenn sie sich ihrer Errungenschaften unter der Hand, ›im Stillen‹ weiter bediente. Eine Rose ist, naja, eine Rose, ein Stein ist ein Stein, eine Immergleichkeit. Auch dies wäre eine Form: eine ins Gegenständige hineingesehene Form, die man ihm, will man sie sinnfällig vor Augen führen, wieder entreißen muss. Oder entlocken: der stille fotografische Lockruf, der an die Objekte ergeht, bewegt hier das Meiste. Was dieses Meiste sei, findet sich auf den Bildern, in der ›Isoliertheit‹ der Gegenstände, in der Art, wie sie in den Blick entlassen werden, der sie umfängt, so dass sie in ihm Halt finden. Man kann es eine Weise der Existenz nennen, die von der Natur nicht vorgesehen wurde und dort mit dem wechselnden Sonnenstrahl kommt und verschwindet. Anders gesagt, es ist das Dinghafte, das ›Steinerne‹, das an unserer eigenen Existenz haftet und das in solchen Bildern offenkundig wird. Kundig geworden, wissen wir Bescheid. Die Kunst sagt uns Bescheid und sind wir einmal verständigt, so bleibt das, was sie sagt, zusammen mit dem Wie dieses Sagens ›bedeutsam‹ - ein schönes Wort, das den stillen Vorgang des Bedeutens in eine abwärts weisende Geste verwandelt und alles, was in ihm angelegt ist, samengleich aufgehen lässt. Diese Foto-Kunst ist bedeutsam. Sie entlockt noch dem sprödesten Stoff und der abweisendsten Form die Einladung, die in ihnen steckt - und sei es die, sich mit ihnen zu ›befassen‹. Man ist rasch geneigt, beiseite zu werfen, womit man sich nicht befassen möchte. Später, zu spät kommt man darauf zurück. Das Gedächtnis ist ein unvollkommener Behälter der verworfenen Welt. Es enthält sie, aber sie bleibt verwunschen. Der nicht gestillte Wunsch hat sie verschlossen und versiegelt. Die Kunst bricht die Siegel. Sie schafft den Austausch von Innen und Außen, den die Seele braucht, um zu atmen. 2. Ein Fahrradsattel, aufrecht gestellt, seiner Funktionen ledig, steht vor diesem schweigsamen Weiß, das zu sagen hätte, aber verschweigt. Nicht das Sagen ist hier gemeint - auch nicht das Verschweigen -, sondern das Gegriffene, der Sattel, der so, auf diesem ihm bereiteten Grund, aus der allgemeinen Wahrnehmung heraus- (wie man, eher missverständlich, sagt) und plötzlich auffällt, obwohl an ihm nichts Auffälliges zu sehen ist. Das Gegriffene ist demnach etwas, das auffällt. Etwas als auffällig markieren heißt aber, es vorzumerken: hierhin will oder soll die Aufmerksamkeit zurückkehren, wenn es ruhiger um sie oder den Gegenstand geworden ist, wenn die Stimmung oder Verfassung gegeben ist, in der man sich ihm widmen, ihn ›sich vornehmen‹ kann – eine seltenere, den üblichen Zuständen ausweichende Verfassung, ein Gestimmtsein, das es erlaubt, in dieses Bild einzudringen, es zu durchdringen, zu sehen, was zu sehen ist, aber eben nur für den, der sieht. Es ist nicht ohne Risiko, die Aufmerksamkeit in dieser Weise zu dirigieren, da sie immerfort durch andere Instanzen abgelenkt wird, die im praktischen Bereich zu Hause sind und nichts anderes wollen als – Aufmerksamkeit. Das Auffällig-Finden des als auffällig Markierten ist eine der Zugangsweisen zum Ästhetischen, aber eine, die unschlüssig im Bereich der Alltagseinstellungen verharrt. Eine Kunst, die sie herausfordert, befindet sich, so sollte man argwöhnen, in Notwehr – sie appelliert an eine Instanz, die ihr wenig gewogen ist, weil sie keine andere findet, an die sie sich wenden kann. Das lässt sich an der Aufmerksamkeitssuada ablesen, die den Verzicht mehr oder weniger ausdrücklich formuliert. Das Kunstwerk, die ›Arbeit‹, das ›Unalltägliche‹ ist auf der Dringlichkeitsskala notiert, es hat ein Sternchen bekommen, sein beredtes Schweigen wurde bemerkt, aber ikonifiziert: es steht für. Der Gegenstand da, auf dem Bild – der, genau genommen, keiner ist, sondern nur ein Fänger von Gegenständen – bedeutet auf einmal das, was im praktischen Alltag schweigt. Das Gegriffene wird, man weiß es, zum Zeichen. Wörter wie ›Erscheinung‹, ›Epiphanie‹ deuten es an. In ihnen macht das profane Denken Urlaub, zumindest denkt es ihn an. Sie liefern dem Zeichen die Deutung gleich mit, gleichsam frei Haus. Man begreift ihre Komik, bedenkt man das in ihnen mühsam sich selbst bekämpfende Pathos. Ein alter Sattel, eine verrostete Forke oder ein paar Kleiderbügel vor einer weißen Fläche sind keine Offenbarungen, sie tragen auch keine heilsgeschichtliche Kunde und man sollte sie mit messianischen Aufladungen verschonen. Sie sind ja auch nicht das, was wir sehen. Wir haben sie nur gleich erkannt, da liegt der Unterschied. Sie sind gegriffen, soll heißen, an ihnen ertasten wir die umgebende Welt, sie sind, nur unendlich komplexer und subtiler (dafür weniger alltagstauglich), so etwas wie die geometrischen Figuren, die Kreise und Dreiecke, die der Kubismus einst aus jeder künstlerischen Form herauslesen wollte und die er ihr doch erst gewaltsam einpflanzen musste. Sie zeigen auf die dingliche Welt, die uns umgibt, sie zeigen auf sie zurück, als wollten sie sagen: Was wir hier in äußerst penibler Reinheit darstellen - die so weit geht, dass schon ein Fliegendreck auf dem Bild die Wahrnehmung erheblich stören würde -, ist uns dort zur Hand, sobald wir es wünschen. Wir können es roh oder gleichgültig oder eilig benützen, aber wir können nicht verhindern, dass unsere Hand, unser Auge momentweise darauf ruht und es uns genau in dem Maße Welt vermittelt, in dem wir nicht darauf verzichten können, weil wir sonst - wie lautet der Ausdruck? - nichts in der Hand hätten. Ein Mensch, der ›nichts in der Hand hat‹, hat ein Problem. So redet die Sprache, sie redet dieses Zeug und gelegentlich ist es sinnvoll, ihr dabei zuzuhören. Es ist Zeug von der Art, wie wir es auf diesen Bildern sehen, während wir doch meinen, die Bilder selbst und sonst gar nichts zu sehen. Zwei Lavabrocken, aufeinander gestellt, ergeben ein Steinmännchen - was sagt uns das? Es sagt, dass hier etwas hergestellt wurde, das in diese Welt zurückwirkt, sie umwirkt, so dass sie nun handhabbar, gestalt- und begehbar geworden ist. Die Kunst ist eine Art Bann, der uns für eine kurze Zeit an diese Schwelle fesselt und den Übergang spürbar macht. Die ›reine Form‹ ist nicht immer die konstruierte, es ist, in einem ganz primären Sinn, die rein aufgenommene. Auch dazu bedarf es der Technik, und das ist eher wenig gesagt, denn jeder technische Schritt, jede neue Form der Aufnahme und Reproduktion, jedes neue Medium und jede neue Fassung erschafft ihre Möglichkeit neu. Deshalb, nur deshalb ist diese Kunst ›an der Zeit‹. Ihre Zeit ist die Zeit der Technik, ihre Zeitlosigkeit die der gegenständlichen Welt. Deshalb erweckt sie diesen seltsamen Eindruck der Unverrückbarkeit, als wolle sie sagen: Diese Gegenstände mögen vergehen oder schon vergangen sein, dieses Blatt mag beschmutzt und zerrissen oder sogar verbrannt werden, aber es ficht die - sagen wir: geschärfte - Wahrnehmung, die es ermöglicht, nicht an. Halten wir uns an die Wahrnehmung. Wenn es gelingt, sie im Abflauen der Aufmerksamkeit auf das zu schärfen, was im Alltag gerade ansteht, dann bedeutet es ja, dass Unschärfe und Schärfe hier eine Verbindung eingehen, die nicht vom jeweils im Vordergrund stehenden Zweck bestimmt wird, sondern vom Bedürfnis, mehr in die Hand zu bekommen als das Nächste und Übernächste. Worin dieses Mehr besteht, denkt man, müsse jeder für sich entscheiden: in seinen Wünschen ist jeder frei. Aber vom Wünschen ist hier gar nicht die Rede, jedenfalls nicht so, wie man gemeinhin denkt. Wer diese Bilder betrachtet, will ja nichts, was er nicht auch bekommt, er will es allenfalls für sich durchdringen, ein wenig transparenter, ein wenig vermittelter mit seiner Weise, die Dinge zu sehen, weil er instinktiv davon ausgeht, dass das Ergebnis dieser seiner Weise zugute kommt, und dieser Wunsch geht ja von den Bildern selbst aus, wie im Märchen: man möchte besser ›hineinkommen‹, wie man sagt. Das gilt vielleicht von allen Bildern, die mehr sind als Planskizzen oder ›Ablichtungen‹ von diesem oder jenem Objektausschnitt - sie machen die Welt vollständiger und lassen es zu, dass man sich zu ihr als einem imaginären Ganzen ins Verhältnis setzt. Wer diesen Punkt durch ein hektisches Verlangen nach ›Engagement‹ überspringt, mag zu den guten Menschen gehören, aber die Kunst bleibt ihm verschlossen. 3. Von Grab_art reden heißt, einen Bogen zu einer Auffassung der Kunst zu schlagen, die nichts weniger als klassisch ist, überblickt man den Zeitraum von der anspruchsvollen Photographie der Anfänge bis zur heutigen Bilderbörse. Die Photographie, so heißt es, ist eine dokumentarische Kunst. Sie lässt sehen, damit man weiß und gesehen hat. Sie greift ein. Das Grauen der Schlachtfelder, das Entsetzliche eines stattgefundenen Massakers ist nicht mehr dasselbe, sobald es einmal im Bild festgehalten und allen zugänglich gemacht wurde - allen zu jeder Zeit. Die Photographie lehrte den Menschen neu sehen. Sie zeigt ihn als bewegte Figur vor seinen Sonnenauf- und -untergängen, sie zeigt ihn bei der Arbeit, in seinen intimen Verrichtungen, als Objekt der Lust und der Grausamkeit, als Gegenstand ethnologischer Neugier. An diesen Begleiter haben sich alle gewöhnt, er ist lästig, wenn er zum Voyeur wird oder die Kreise der Mächtigen stört, er hilft dem Gedächtnis auf und stört seine Kreise, wenn es dem Vergessen zuneigt. Er gehört zur Grundausstattung der Moderne, er gehört zu den Dingen, die aus unserem Leben nicht wegzudenken sind. Diese Beschreibung hat einen Nachteil. Was das Medium kann und was es bewirkt, ist nicht auf die Funktionen zu beschränken, in denen es von der Gesellschaft absorbiert wurde. Was die Photographie ist und leistet, lässt sich nirgendwo ablesen als an den Bildern selbst. Das schnelle Verständigtsein über Ziele und Aufgaben hat diesem wie anderen Medien viel geschadet. Aber es hat seine Entwicklung nicht aufhalten können. Die technischen Merkmale der heutigen Photographie lassen sich, wenn man sie als Kunst versteht, auch anders deuten denn als willige Helfer im Erfassen und Dokumentieren von Unheil und Gier. Sie weisen in eine Richtung, die einmal als Hyperrealismus bezeichnet wurde, ohne dass so recht deutlich wurde, um welche Wirklichkeit es einem solchen ›Realismus‹ geht. Heute, im digitalen Zeitalter, erkennt man, dass die Summe der leisen Veränderungen, die eine Aufnahme gegenüber der physiologisch korrekten Wahrnehmung vornimmt, an sich weder hinter ihr zurückbleibt noch in Bereiche der Wirklichkeitserfassung vorstößt, die dem ›unbewaffneten Auge‹ nicht zugänglich wären. Eher stellt sie, um bei der Metapher zu bleiben, eine Art Entwaffnung dar. Was das Auge sieht, ist auf vielerlei Weise gerichtet und zugerichtet, es ist auf Aufgaben trainiert, die es zu bewältigen gilt. Es ist Teil einer biologischen Einheit. Eine Aufnahme hingegen besitzt keine Funktion außer der, die man ihr zuweist. Sie ist vorhanden, unabhängig von Zweck und Funktion, man kann sie einsetzen, wie es beliebt. Man kann sie sogar ansehen. Grab_art ist eine Weise, im dokumentarischen Medium den nicht-dokumentarischen Raum zu öffnen. Die Welt wird nicht abgetastet, um ihre - unappetitlichen oder gierig umlagerten - Geheimnisse zu lüften, zu lösen oder zu ›knacken‹. Die Bilder dienen nicht als Beleg, sie verweisen auf keine Fakten, sie dokumentieren nichts. Die einzige Instanz, der sie auf eine paradoxe Weise dienen, ist der Einfall. Sie lassen sich Gegenstände einfallen, soll heißen, sie geben sie so, wie sie in die Wahrnehmung fallen könnten, fast wäre man versucht zu sagen: wie sie sich fallen ließen, wenn man sie ließe. Und so zu reden wäre nicht einmal verkehrt. Denn was neuere Theorien die unbeherrschte und unbeherrschbare Natur nennen, ist dem menschlichen Einfall, der dem einfallenden Licht so viel verdankt, nahe verwandt. Das Wirkliche fällt uns nicht nur an, es fällt uns zuallererst ein. Diese Art Photographie macht das sichtbar, nach der Formel, die wohl für alle Kunst gilt: ergreifen, was ergreift. (12.01.2008) | |
Antonin Paget / Walter Rüth: GRAB_ART (2007) | |
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