Ein Museum im Netz muss genau dies sein: ein Knoten im Netz, eine Ballung, nichts, was auf äußere Raum-Orte verweist und das, was es dort zu besichtigen gibt. Es ist alles hier: unmittelbar, aufrufbar, einen Mausklick entfernt, nicht mehr, nicht weniger, nicht mehr oder weniger, sondern wirklich. Die Wirklichkeit des Virtuellen umschließt alles, was das Medium ins Ziel bringt. Weder Theorie noch Verpackung noch Derivat, sondern die Sache selbst, von der die Phänomenologen träumen. Ein Datenknäuel, Bilder, Geschriebenes, Töne, ein wenig wirr, übergängig wie alles Gedachte, wer will, findet sich durch. Ein wenig wirr ist die Oberfläche der Welt, das verdankt sich dem Labyrinth der Sinne. Entwirre es, wer kann.
Michael Schulze: Fish

»Discovery« heißt die 2011 außer Dienst gestellte amerikanische Raumfähre, die sich am längsten im Weltraum herumgetrieben hat. »Discovery« hieß auch das Schiff, mit dem James Cook 1778 Hawaii entdeckte – für den Entdecker eine Reise ohne Wiederkehr, weil er es versäumte, sich mit den Insulanern über den Sinn seiner Expedition zu verständigen: er kam als Gott und erlag dem Mythos. Michael Schulzes Amerika-Serie knüpft an die Entdeckung Amerikas durch Kolumbus an, genauer gesagt, an dessen Rückfahrt. Am 14. Februar 1493 gerieten die Schiffe in einen Sturm und Kolumbus vertraute seine Aufzeichnungen einem Fass an, das er über Bord werfen ließ. Zu besichtigen ist dieses Fass bei Schulze zweimal: zunächst auf einer Radierung, wo es die Aufschrift »FUTURE« trägt und aus einem Zapfhahn die Wogen des Weltmeers aus sich entlässt (»Aus Situation wird Geschichte«, Abb. 2), sodann, mit einem Front-Auge versehen, als Objekt vor einem hell-dunklen Hintergrund, in dem sich die Anmutungen des Wässrigen und des Erstarrten durchdringen (»The Barrel Of Christoph Columbus«, Abb. 3).

Die Mär vom versunkenen Original begleitet auch den neuen Entdecker, der entdeckt, wo es, streng genommen, nichts zu entdecken gibt, seit das Land der Entdecker wie der Entdeckten die volle Deutungshoheit über den Globus besitzt und die Menschheit mit Heilsbotschaften, darunter recht zweifelhaften, traktiert (»What Moves Around The Center«, Abb. 1). Wie ein Emblem für die Zwiegesichtigkeit allen Entdeckens wirkt da der »Fish« (Abb. 6), dessen hintere Partie von einem aus Holz und Metall geformten Gerät gebildet wird. Was als ein neues Leben beginnt, endet in den Fängen des mechanischen Daseins.

Schulzes Objekte leben – stärker als die Radierungen – von der Spannung, die jedem Entdecken innewohnt: das Entdeckte prägt der Folie aus Interpretationen seine Konturen ein, ohne die es spannungs- und entdeckungslos einfach da wäre, und gibt ihr das Nachsehen. Dieser stumme Aufstand der Dinge spricht auch von jenen, deren Deutungen nicht mehr gefragt sind, es sei denn in musealen Zusammenhängen. Die Rede ist von den Ureinwohnern, deren Schicksal darin bestand, sich entdecken zu lassen und dies mit dem Verlust all dessen zu bezahlen, was sie vor dem Zusammenstoß mit den »Weißen« waren. Wie er von ihnen spricht, das zu erkunden bleibt dem Betrachter überlassen.

Nur Flöhe haben keine
Paul Mersmann: Das Alphazet (Ausstellung UB Bochum)

Wechselwirkungen zwischen zwei Teilchen sind stets durch den Austausch eines dritten Teilchens vermittelt.
Im Fall der Diffusion der Moderne bedeutet dies, nach dem Dritten im Bunde zu fragen.
Wie meist helfen auch hier die Forschungen eines Hundes weiter.
Zu entnehmen ist ihnen der Hinweis: vom Hund zum Floh!
Kein kleiner Sprung für ersteren, und umgedreht !?
(Nebenbei: E.T.A. Hoffmanns Meistermärchen liest sich streckenweise wie Kafka.)

Das dritte Teilchen ist der Floh.

»Ein Floh kann jede Sekunde einen Sprung in eine dem Zufall überlassene Richtung vollführen. Nach Ablauf der Zeit t befindet sich das Tierchen dann im Abstand L von seinem Ausgangspunkt. Hätte der Floh sich in gerader Linie fortbewegt, wäre der Abstand L proportional zur Zeit (L= Vt), und der Proportionalitätsfaktor V wäre die Geschwindigkeit des Tieres. Doch der Floh hat einen zufallsbestimmten Zickzackkurs hinter sich gebracht. Deshalb ist das Quadrat der erreichten Entfernung vom Ausgangspunkt im Mittel proportional zur Zeit (L² = Dt). Bringt man zahlreiche Flöhe an einem Punkt zusammen und läßt sie frei, so werden sie sich über die beschriebenen Zufallssprünge tendenziell gleichförmig im Raum verteilen; sie ›diffundieren‹«.
(Soweit zitiert nach: Thesaurus der exakten Wissenschaften, Stichwort Diffusion, Seite 174).

Nun zur Moderne.

 Paul Mersmann: Das Alphazet (Ausstellung UB Bochum)
Es gibt etwa 2400 Arten von Flöhen (Siphonaptera – fast möchte man -abdera schreiben).
Es sind Parasiten.
Sie gehören zur Überordnung der Neuflügler, besitzen aber keine Flügel (aptera - gr. flügellos).
Seine kräftigen Hinterbeine befähigen den Floh zu schneller Fortbewegung und bis zu einem Meter weiten Sprüngen.
Die Sprünge des Flohs sind ungerichtet.
Wahrscheinlicher Grund dafür: er hat keine Facetten – sondern einlinsige Punktaugen. Menschen als Flöhe bzw Menschenflöhe (Pulex irritans) wurden bis Mitte des Zwanzigsten Jahrhunderts als Artisten beschäftigt und waren die Attraktion der Flohzirkusse.
Paul Mersmann: Das Alphazet (Ausstellung UB Bochum)

Dies alles trifft auf die Moderne zu. Ebenso wie der Umstand, daß die Ursache für die Diffusion die ungleichmäßige Verteilung der Diffusanten/des Diffusats im Raum ist. Diese Ungleichmäßigkeit äußert sich in der Existenz eines GRADIENTEN.

In E.T.A. Hoffmanns Meister Floh ist dieser Gradient der Flohbändiger Leuwenhoek. Der betreibt in Frankfurt am Main einen Flohzirkus, in dem man dressierte Flöhe, als Soldaten verkleidet, bei ihren Sprüngen betrachten kann - und genau diese sind entflohen – flohmäßig diffundiert – unter Führung von Meister Floh, dem Oberhaupt aller Flöhe.

Paul Mersmann: Das Alphazet (Ausstellung UB Bochum)

Nach dem Diffusionsgesetz verhält sich die Menge der diffundierten Flöhe proportional zum Gradienten.
Der Proportionalitätsfaktor entspricht dabei dem für Diffusant und Diffusat charakteristischen Diffusionskoeffizienten.

Ist Meister Floh der Proportionalitätsfaktor, so der Diffusionskoeffizient der Geheime Hofrat Knarrpanti.
Dieser verfährt nach der membranistischen Methode: »...ist erst der (Kunst)verbrecher oder Modernist ausgemittelt, findet sich das begangene (Kunst)verbrechen von selbst...«

Was nun auf jene Kunstrichterei passen will, der – selbst nicht modern – die Moderne gehupft wie gesprungen ist.
Solange bei ihr das Bedürfnis sich zu kratzen vor dem Juckreiz kommt.

Übrigens: Flohsamen plantago ovata (Indien) – zu feinem Pulver vermahlen, quellen die Schalen des Flohsamens in Verbindung mit Wasser zu einem Vielfachen ihres ursprünglichen Volumens auf, was die Entsorgung des Diffusionsballast wesentlich erleichtert.

Abbildungen:
Ausstellung Paul Mersmann: Das Alphazet in der Universitätsbibliothek Bochum v. 27.5.-31.8.2010. Aufnahmen: Archiv

Michael Heisch: Schattenboxen

„Boxen hat grundsätzlich nichts Spielerisches, nichts Helles, nichts Gefälliges an sich. In seinen intensivsten Momenten ist es (…) das Leben selbst und kaum ein blosser Sport.“
Joyce Carol Oates: „Über Boxen“

Schattenboxen. Einladung

Schattenboxen setzt Boxen in Szene als Ausnahmezustand sozialer Interaktion. Im musikalisch-szenischen Parcours überlagern sich Boxen und Musik als je eigene Regelsysteme mit ihrem spezifischen Körperlichkeiten, Rhythmen und Potentialitäten.
Schlagfolgen und Kampfverläufe kontrastieren mit klanglichen Feldern, Arien, Songs und dem Wortstrom des Literarischen. Kontinuitäten zwischen Kunst, Kampf und Alltag werden irritiert von Momenten der Verrückung und Zonen des Unbestimmten.
Wer kämpft? Wer spielt? Hakenschlag oder Atempause? Wo beginnt das Terrain der Auseinandersetzung? Wann kippt die Figur - in eine andere oder auf die Bretter...?
podcastKurt Röttgers: Kulinarische Vernunft
Der Tempel der Para Noyer