Das Pulsieren des Raumes. Wie Ortserkundungen zu Texten werden
Festrede im Rahmen des 10. Internationalen Literaturfestivals Berlin
Übersetzt von: Christian Hansen
Der erste große europäische Roman – selbstverständlich spreche ich von dem des Cervantes – ist kein städtischer Roman. Don Quijote und sein Schildknappe durchziehen auf ihren Fahrten das ländliche Spanien, und die einzige Stadt, in der sie gegen Ende des Zweiten Teils Einzug halten, wird uns nicht beschrieben. Die beiden Protagonisten besuchen lediglich die Druckerei, wo der Band gedruckt wird, der ihre Abenteuer erzählt. Noch ist die Typographie nicht das Produkt einer städtischen Topographie, wie es dreihundert Jahre später der Fall sein wird.
Im Verlauf des 17. und 18. Jahrhunderts spielen die bedeutendsten Werke des Genres – Moll Flanders, Tristram Shandy, Jacques le Fataliste – in einem urbanen Ambiente, mit dessen Kartographierung sich die Autoren jedoch nicht aufhalten. Das setzt sich ein Jahrhundert später durch, und heute ist es fast ein Gemeinplatz, wenn man sagt, dass Paris von Balzac erschaffen wurde, London von Dickens und Madrid von Galdós. Aber diese Erschaffung – der Rekurs auf Viertel, Straßen, Plätze und Märkte, wo sich das Leben der Helden und Heldinnen entspinnt – erreicht noch nicht die Detailtreue und Genauigkeit eines authentischen topographischen Bezugs: Die Stadt bildet den dekorativen Rahmen der Romanhandlung und übernimmt noch keine direkte Hauptrolle. Es dauerte bis ins vergangene Jahrhundert, dass durch Ulysses von Joyce, Manhattan Transfer von Dos Passos, Berlin Alexanderplatz von Döblin, Landschaft in klarem Licht von Carlos Fuentes und Das schwarze Buch von Orhan Pamuk, um einige Beispiele zu nennen, die Städte Dublin, New York, Berlin, Mexiko D.F. und Istanbul zu den eigentlichen Protagonisten ihrer Romane aufrücken. In ihnen wird, wie Julián Ríos sagt, Topographie zu Typographie, und dank ihrer Autoren eröffnen sie uns die befruchtende Lektüre des Raums in Bewegung.
Der erste, der die urbane Welt aus der destabilisierenden Perspektive des Wandels erfasst hat, war Baudelaire. Seine Lektüre, im Licht von Walter Benjamins späteren Beobachtungen, war Keim oder Samenkorn meines eigenen erzählerischen Werdegangs. Aus der von Haussmann unter Napoleon III. betriebenen Umgestaltung von Paris, die der Autor der Blumen des Bösen mit einer uns bis heute faszinierenden Hellsicht und Pointiertheit beschreibt, erwächst dem Roman – verzeihen Sie den flagranten Anachronismus – die vierte einsteinsche Dimension: die der Zeit und ihrer Relativität. Die neue städtebauliche Ordnung der Bourgeoisie und ihr Streben nach einem erlesenen Raum riefen komplexe Hygiene- und Sanierungsmaßnahmen auf den Plan: die Schaffung freier Flächen und breiter Avenuen, die Zerstörung der gewachsenen Viertel, wie man sie in den Chroniken aus der Zeit vor der französischen Revolution geschildert findet. Wie ich vor rund zwanzig Jahren schrieb: „Die enorme Beschleunigung der Veränderungen in der Pariser Stadtlandschaft reduzierte die Dinge auf bloße Erinnerungsbilder: Alles wetteiferte darum, die Hinfälligkeit der Gegenwart und die Ungewissheit der Zukunft zu betonen, in einem Universum des Geschwätzes und des Furors, das dem eines de Sade und dem des Autors der Celestina verwandt war.“
Wie ich im Folgenden kurz darlegen möchte, gibt es zwei Arten, die Stadtlandschaft in den Blick zu nehmen: unter dem Gesichtspunkt einer zeitlosen Gegenwart, als museale Stadt, und unter dem der destruktiv-konstruktiven Maschinerie der Zeit als permanente und anspornende Evolution. Paris und Berlin sollen mir als Leitfaden dienen, wobei ich en passant auch auf die Erfahrungen mit anderen Städten eingehen werde, in denen ich gelebt habe und die auf die eine oder andere Weise für meine Arbeit einflussreich waren.