Omar Akbar: Bagdad in Trance - 1981 und Folgen. Die Reise dorthin

Bagdad 1982

Omar Akbar

Bagdad in Trance – 1981 und Folgen

Die Reise dorthin

Bagdad sollte zum Paris des »Mittleren Ostens« werden. Kein ungewöhnliches Vorhaben eines Diktators. Ungewöhnlich war, dass Einiges zugleich geschehen sollte: die totale Umwandlung der Stadt, der militärische Sieg über den Iran und die Durchführung der Konferenz der »Non-Aligned Countries«, 1986. Eine Organisation, die 1961 ins Leben gerufen worden ist, um in der Zeit des »Kalten Krieges« die politische und ökonomische Ungebundenheit der Gebundenen zu demonstrieren. Eine postkoloniale Organisation, deren Mitgliedsländer sich bis heute durch menschenunwürdige und undemokratische Bedingungen überbieten.

Laut Gerüchten wollte Saddam Hussein, der sich 1979 zum Staatspräsident putschte, Bagdad zur »Mutter« aller Städte in der arabischen Welt machen. Die Materialisierung dieser Phantasie wurde im Kreise der kritischen Architekten im Spätherbst 1981 wie folgt erzählte: »... iranische Piloten überflogen Bagdad mit dem Auftrag zur Bombardierung und bemerkten, dass die Stadt ein Bild aus aufgerissenen Straßen, abgerissenen Häusern, Ruinen und Baustellen bot. Diese meldeten das Unterfangen an die Zentrale. Es folgte der Befehl: Wenden!«

Wie in anderen Ländern des vorderen Orients, so auch in Bagdad, wurden Arbeiter, Fachkräfte, Organisatoren und Maschinerien aus allen Orten der Welt, in die von Mythen überfrachtete Stadt, gebracht.

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In dem Film von Ludwig Berger »Der Dieb von Bagdad«, 1940, bestiehlt Abu, der Dieb – mit einem Charakter wie Robin Hood – aus einer Garküche im Bazar gebratene Fische, um sie zwei hungernden Bettlern zu geben. Daraufhin jagt eine Menschenmeute ihn durch die Stadt. Er hastet durch die Gassen, rennt Stufen auf und ab, springt von Dach zu Dach und von Leiter zu Leiter, bis er auf ein Dach gelangt. Dort hat er den Blick auf die edle Terrasse des Palastes. Er sieht den König Achmed und seinen Großwesir Jaffar auf den Marktplatz blickend. Dort wird in diesem Moment ein Mann öffentlich hingerichtet. Der König bemerkt: »... Hinrichtungen ohne Ende. Was hat er getan?« Der Wesir: »Er hat gedacht, mein Herr und Gebieter.« Der König: »Ist es ein Verbrechen zu denken?« Der Wesir: »Für ein Volk das größte Verbrechen.« Der König: »Sind Menschen nur mit Furcht zu regieren?« Der Wesir: »Menschen sind böse, sie haben Hass in den Augen, lügen auf den Lippen, Verrat in den Herzen. Das wirst Du noch erfahren, großer König. Es gibt nur drei Herrscher, die die Menschen respektieren: die Geißel, die sie schlägt, das Joch, das sie beugt, das Schwert, das sie tötet. Nur mit Gewalt, Verachtung und Schrecken wirst Du der Herr der Erde.«

Spätestens nach der Machtübernahme durch die Baath-Partei, 1963, sollte Jaffars Haltung Realität werden. Nun beherrschten nicht mehr Mythen die Stadt, sondern blutige Machtkämpfe und politische Säuberungen. Bagdad bedeutete: Verfolgung, Folter, Angst und Gier. Der sympathische Dieb, mit dem sich positive Fantasien erträumen ließen, musste Parteidieben weichen. Im Kontext ihres Raubzuges haben sie eine Melange aus nationalistischer, sozialistischer, religiöser und ethnischer Ideologien geschaffen. Somit haben sie sich unterschiedliche Bewegungsräume gewährt. Sie konnten auf die Loyalität ihrer Stämme zurückgreifen, auf die immanenten religiösen Konflikte zwischen den Sunniten und Schiiten, auf den Hass gegen die Juden, die Christen, den Westen und auf die Solidarität der Befreiungsbewegungen und den Diktaturen der sogenannten sozialistischen Länder bauen.

Bagdad entsprach schon lange nicht mehr dem Bild einer orientalischen Stadtanlage. Der aggressive Modernisierungsprozess hatte die Stadt in unkoordinierte Fetzen zerlegt. Breit angelegte Straßen und Verkehrsknotenpunkte wurden bestückt mit monumental- heroischen Statuen, um diese Fetzen zusammenzuhalten. Alle staatlichen Organe wurden aus Angst vor Kontrollverlust in Form einer zentralistischen Verwaltung in Bagdad angesiedelt. Darüber hinaus sorgte der Verstädterungsprozess dafür, dass die Stadt breiartig in ihr Umland zerfloss.

Anfang 1980 wollte Saddam Hussein auch bauliche Spuren legen und dazu benötigte er einen erfahrenen irakischen Architekten. Dieser saß jedoch im Gefängnis. Während einer Veranstaltung in Wien begegnete er einem israelischen Kollegen – daraufhin wurde er zum Mosad-Agenten deklariert. Für die islamisch-arabische Welt ein bekanntes Phänomen. Wie in einer schlechten Kopie einer Erzählung aus »Tausend und eine Nacht« durfte er auf Befehl des Herrschers das Gefängnis verlassen, um Bagdad zum Paris des »Vorderen Orients« zu machen. Damit dieses Unterfangen realisieren werden konnte, wurden Tausende auf dem Luft- und Landweg nach Bagdad geholt. Wegen des Krieges mit dem Iran, konnte Bagdad nur nachts angeflogen werden, so lag es nahe, dass Amman und Damaskus bevorzugte Destinationen für jene wurden, die nicht direkt nach Bagdad fliegen konnten. Aus Europa und Amerika kommend landete man in Amman.

 

 

 

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Erschöpft durch den Nachtflug, begann die Busfahrt in Richtung Bagdad auf der »Route 10«, die nach der Stadt Al-Mafraq benannt ist. Bis zur irakischen Grenze sind es etwa 350 km auf einer asphaltierten Straße, nicht allzu breit und wiederholt beschädigt. Es lag nicht unbedingt an der Qualität des Asphalts, sondern war Ausdruck der schlampigen Art der Ausführung von Bauaufgaben. Ein Phänomen mit Gültigkeitsgarantie für einige Länder des Vorderen Orients.

Der Busfahrer kannte diesen sogenannten Highway. Er bremste instinktiv genau dann ab, wenn der nächste Straßenschaden zu erwarten war. An den Stellen, wo die Schäden erheblich waren, wich er auf die rechte Seite aus und erzeugte einen Wirbel von Staub gepaart mit Sand. Die Feinkörnigkeit drang in das Innere. Der Glaube im geschützten Gefäß zu sitzen wurde spätestens beim Zusammenkommen der oberen und unteren Gebissteile ad absurdum geführt. Der feine Sand wurde zum Bestandteil des Speichels.

Die karge Landschaft, breitete sich bis zur Unendlichkeit aus. Wiederholt hielt der Fahrer an und nahm Wartende mit. Wie ein gewohntes Ritual hielt er irgendwo auf der Strecke wieder an. Die Zugestiegenen verließen den Bus, um in die Unendlichkeit zu gehen. Weit und breit waren weder ein Zelt, ein Haus, oder eine Siedlung in Sicht. Immer wieder tauchten Raststätten und Tankstellen auf. Sie erinnerten an jene Hollywood Filme, die die Stops entlang der berüchtigten »Route 66«, dramaturgisch thematisierten. Der Unterschied zeigte sich bald. Das Verlassen des Busses wurde zur Tortur, denn zahllose »Fliegende Händler« belagerten den Bus, um ihre Waren feil zu bieten. Eine Situation wie vor den Toren der Altstadt von Fès in Marokko.

Hunderte von Touristenführer lassen solange den Fremden nicht in Ruhe, bis er/sie genervt auf das ungewollte Angebot eingeht, nur um weiter zu kommen. Erfahrene handeln umgehend. Sobald sie »intramuros« sind, verabschieden sie sich freundlich von dem selbsternannten Stadtexperten. Dieser wiederum ist beglückt und stürzt sofort auf nächste Opfer zu. Deshalb war es auch hier ratsam sofort zu handeln, um einen Weg aus dem Bus in die Freiheit zu erringen. Eine Flasche Wasser zu kaufen war günstig, notwendig und wegbereitend.

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Die Dringlichkeit erforderte es, die Nasszellen aufzusuchen. Der penetrante Geruch konnte bald wahrgenommen werden. Weitere Hinweise für den Standort der Nasszelle waren nicht nötig. Es hieß, in der glühenden Hitze, zielstrebig dem Geruch nachzugehen. Beim Besuch derselben sehnte man sich nach den Autobahn-Toiletten der DDR. Erstens waren sie sauberer und zweitens rochen sie nicht nach Fäkalien. Ebenso waren Fliegen und Mücken abwesend. Das allgegenwärtige sozialistische Desinfektionsmittel »Wofasept«, das sich von der DDR über Osteuropa bis Wladiwostok wie ein Schleier als sozialistischer Einheits- und Identitätsgeruch ausbreitete, war gnadenlos mit Gestank und Insekten. Der penetrante Geruch dieses Erzeugnisses hatte es in sich. Wer einen Zug, eine Toilette oder andere Einrichtungen in der DDR aufsuchte, hatte das Vergnügen der Nachhaltigkeit, denn der Geruch begleitete seinen Protagonisten tagelang. Nach den Erledigungen versuchte der Fahrer im Wirrwarr der Geschäftigkeit, wie ein Bazari, der lautstark seine Waren feil bot, seine Fahrgäste zur Weiterfahrt zu bewegen. Nach mühevollem Einsammeln der Gäste, des Jonglierens des Busses zwischen Passanten, Händlern, Eselskarren, Autos und anderen Geständen gelang es ihm endlich die Fahrt auf dem Highway fortzusetzen. Dieses Vergnügen wiederholte sich immer wieder.

Dank irgendwelcher überweltlicher Kräfte entging dieser Bus dem Schicksal anderer Fahrzeuge, dampfend oder mit einer Reifenpanne am Straßenrand zu stehen und von selbsternannten Experten begutachtet zu werden. Wer die Verhältnisse kennt, weiß, wie sich das Fachwissen zusammensetzt: der eine hat einen Verwandten bei der Reparatur eines ähnlichen Fahrzeuges beobachtet, der andere kennt jemand, der das gleiche Modell hat, ein anderer wollte Automechaniker werden etc.

Nach einer verschwitzten und erschöpfenden Fahrt erreichte man endlich die Grenze. Die Formalitäten an der jordanischen Grenze wurden relativ schnell erledigt. Auf der irakischen Seite schien eine Überquerung der Grenzsperren fast unmöglich zu sein. Wo man auch hinschaute: überladene Lastwagen, Busse, Taxen, Trauben von Menschen und unterschiedlichste Waren. Nach Stunden des Wartens mussten, unter der prallen Sonne, die Koffer vollständig ausgepackt werden. Der gestrenge Grenzbeamte, mit allen Waffen der Welt bestückt, begutachtete jedes einzelne Teil. Wenn man Glück hatte, wurde das Observieren nicht unterbrochen, denn die minutenlangen Gespräche mit einem zufällig vorbei kommenden Kollegen oder Bekannten, schienen ein permanentes Unterfangen zu sein. Keine Macht der Welt konnte die Beamten auf ihre eigentlichen Aufgaben aufmerksam machen. Sie glaubten, sie wären omnipotent und könnten die Vorschriften nach eigener Laune interpretieren und anwenden. Ein Hauch eines Protestes konnte schwerwiegende Folgen nach sich ziehen. Diese unangenehme Pause, in der Hitze genervt vor dem geöffneten Koffer stehend, zwang einen, ungewollt, das Schicksal anderer Betroffener zu beobachten.

Wenn einige Architekten der so genannten »Klassischen Moderne« meinten, eine Wohnung sei ähnlich rational und funktional zu gestalten wie ein Koffer, so kann man davon ausgehen, dass sie die Dimensionen eines orientalischen Koffers nicht kannten. Diese, jegliche Normen sprengende Koffer, wurden auf die langgestreckten Ablagen zur Durchsuchung geöffnet. Wehe jenen, die weder lesen noch schreiben konnten, aus entfernten Ländern wie Ägypten und Jemen die Reise angetreten haben, um im Irak Arbeit zu finden. Hat der Beamte bei der Durchsuchung etwas Verbotenes entdeckt, wurde im Kontext des sozialen Standes und des Herkunftslandes entsprechend seiner Laune gehandelt. Koffer wurden vor allen Augen ausgeschüttet, Inhalte landeten auf dem Boden, wurden mutwillig zerstört, die Besitzer gepeinigt, öffentlich geschlagen, oder abgeführt. Die Atmosphäre der Grenzstation war von Chaos, Willkür, Angst und Unwirtlichkeit erfüllt. Nach den Torturen dieser entwürdigenden Grenzkontrolle durfte man endlich neben allgegenwärtigen überdimensionalen Saddam-Porträts in großen arabischen und englischen Buchstaben lesen: »Willkommen im Irak«. Unter den gegebenen Umständen ein zynischer Gruß.

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Auf der irakischen Seite war der Zustand des Highways unverändert. Die »Route 10« hieß nun Al-Rutba, nach einer irakischen Stadt, die zwischen der Grenze und Bagdad liegt. Auf der irakischen Seite veränderte sich jedoch die Atmosphäre schlagartig. Je weiter in Richtung Bagdad, umso präsenter das Militär und umso vorsichtiger der Fahrer. Das Militär war der Repräsentant der Macht. Es konnte Fahrzeuge anhalten, kontrollieren, enteignen, rammen oder willkürliche Verhaftungen vornehmen. Trotz dieser Realitäten mussten alle gewollt oder auch zögernd brav anhalten, wenn ein Hirte mit seinen Schafen die Straße überqueren musste. Dem Gesetz der Natur gehorchten alle. Möglicherweise wegen der Gleichzeitigkeit des Ungleichen, oder dem Respekt gegenüber dem Hirten, der seine Autonomie und Freiheit eher behalten hat, als die abhängigen Städter, denn woher sie auch kamen und welche Interessen sie auch verfolgten – sie gerieten in Bagdad unter das Joch des urbanen Terrors.

Urban meinte nicht die zivile Errungenschaft der »Citoyen«, sondern die orientalische Variante des städtischen Lebens im Sinne von Max Weber. Der Verbandscharakter fehlt. Erst er ermöglicht die Gleichheit des Individuums in der Stadt, da neutrale Verwaltungsorgane existieren. Außereuropäische Traditionen kennen diese städtische Organisationsformen weniger. So gesehen haben diese Städte wenig Luft die frei macht. In der idealtypischen orientalisch-islamischen Stadt herrschen die »Umma«, die islamische Gemeinschaft, und die Gesetzmäßigkeiten der Stämme. Bagdad wurde zu dieser Zeit durch Saddam Husseins Stamm der »Begat« aus Tikrit dominiert. Alle strategisch wichtigen staatlichen und städtischen Organe des Landes wurden an die Loyalen vergeben – an die »Begat«. Die Loyalität muss im Sinne von Potlatch verstanden werden – eine ökonomische Beziehung. Fehlt sie, so verschwindet auch die Loyalität.

Letztendlich ging die Fahrt nicht in Richtung einer Stadt im europäischen Sinn, auch nicht in Richtung einer orientalisch-islamischen Stadt mit allen westlichen Projektionen und Fantasien, in der Harems und ähnliche Dinge zu finden wären. Die Fahrt ging in Richtung einer Stadt, die nicht mehr multiethnisch war, sondern durch eine Ethnie, die sich ihrer bemächtigt hatte, regiert wurde. Dies steht im Widerspruch zu der historisch-klassischen orientalischen Stadt, die »intramuros« nach Ethnien in Quartieren eingeteilt war. Die Ethnien konnten unterschiedlicher Herkunft sein mit kulturellen Eigenarten. Die Quartiere hatten ihre eigenen Zentren mit Moschee und Bazar. Der Name des Quartiers wurde von der Genealogie des Stammes abgeleitet und/oder von dem Herkunftsort. Die Freitagsmoschee und der Hauptbazar, wie wir ihn aus Istanbul, Isfahan, Alepo und anderen historischen Städten kennen, waren Orte der Begegnung, der religiösen Rituale und des ökonomischen Austausches.

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Nicht immer lebten die Bewohner der Quartiere friedlich nebeneinander. Die baulich- räumliche Introvertiertheit und die Tore zu den Quartieren bezeugen es. Shashi Tharoor beschreibt in seiner Erzählung »Aufruhr – Eine Liebesgeschichte«, eine Situation zwischen Hindus und Moslems in der Stadt Zalilgarh, die geradezu exemplarisch ist. Ähnliche Auseinandersetzungen finden immer wieder zwischen Sunniten und Schiiten statt.

... Jedenfalls waren bereits zirka fünfundzwanzig- bis dreißigtausend Hindutva- Anhänger in Zalilgarh versammelt. Die Typen waren zu allem entschlossen ... Wir haben ihnen gut zugeraten, ihre Route zu ändern, muslimische Wohnviertel und vor allem Moscheen zu meiden. (S. 161) ... die Prozessionsteilnehmer skandierten die vulgärsten und bösartigsten Parolen, angestimmt von einigen unserer ehrenwerten Unterzeichner. (S. 164) ... Das alles war schon schlimm genug, aber dann versuchten die Anführer plötzlich die Prozession mitten in die Bastis der Muslime zu lenken. (S. 165) ... Eine scheinbar endlose Prozession, die sich langsam, quälend langsam, ihren Weg durch die engen Gassen bahnt. Ihre stampfenden Füße wirbelnden den Staub auf. (S. 165) ... Die Muslime hatten eine Bombe in die Menge geworfen, ... Die aufgebrachte Menge hatte einen jungen Mann umringt, der blutend am Boden lag. Seine Brust war von einer primitiven Bombe aufgerissen worden. (S. 167) ... Die Idioten von Bombenwerfern hatten sich bei ihrem hirnverbrannten Plan, den sie sich irgendwo in ihren Ärschen ausgeheckt haben müssen, ganz offensichtlich verrechnet. (S. 168) ... Sie rechneten sich aus, dass das für ein paar Dutzend Hindus reichen würde, ... Sie hatten sich keinen einzigen verpissten Gedanken darum gemacht, was mit dem Haus, von dem aus sie die Bombe werfen wollten, mit dem Basti, dem Viertel passieren würde... (S. 190)

Auch wenn Bagdad von den Tikrities beherrscht und dominiert wurde, so gab es doch Reste traditioneller Quartiersaneignung. Baulich-räumliche Segregation durch eine bestimmte sozial-ethnische Gruppierung gab es auch in dieser extrem kontrollierten Stadt. Bagdad war eigentlich ein offenes Gefängnis. Die Gefangenen waren die Bürger, denn sie wurden auf Schritt und Tritt beobachtet und gegängelt. In den Wohnquartieren gab es offizielle und inoffizielle Informanten. In den Schulen, Universitäten wurden die Schüler, Studenten, Lehrer und Professoren bespitzelt. In den Behörden und anderen staatlichen Einrichtungen galt die absolute Loyalität. Die Angestellten waren Parteimitglieder oder wurden nach parteipolitischen Grundsätzen eingestellt.

Diese Realitäten führten zu paranoiden Verhaltensformen, Interpretationen und Verschwörungstheorien. Wenn ein weißer Mercedes auf der Straße auftauchte, war für jeden klar, dass »Muchabarat«, der Geheimdienst, unterwegs ist. Das Regime erreichte, wie in der Sowjetunion, DDR, Kuba, China, Nord-Korea, Saudi-Arabien und vielen anderen Ländern, dass jeder jeden verdächtigte.

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Je näher Bagdad rückte, umso öfters wurden die Fahrzeuge zur Kontrolle angehalten. Streng aussehende und schwer bewaffnete Sondereinheiten stiegen ein und nahmen sich willkürlich Personen vor. Andere begutachteten die Koffer mit der gleichen Arroganz und Rücksichtslosigkeit. Immer wieder wiederholten sich diese Kontrollen. Es schien, die Kontrolleure kontrollierten sich gegenseitig. Niemand vertraute dem Anderen. Kurz vor der Stadt sammelten sich hunderte von Fahrzeugen. Aus einer scheinbar vierspurigen wurde eine sechs-, siebenspurige Straße. Unzählige Fahrzeuge kamen aus der Stadt und verstreuten sich in die Breite. Andere verließen die Breite, um im Schritttempo in die Stadt hinein zurollen. Auch von den Seitenstraßen floss Verkehr. Einige Fahrzeuge versuchten, fast rechtwinklig die Straße zu überqueren oder in die entgegensetzte Richtung zu fahren. Wiederholt entstanden verworrene Verkehrsknoten, die schwer zu entflechten waren.

Auch in diesem Verkehrstrichter, in dem es in die Stadt hinein und aus der Stadt heraus floss, war es geradezu komisch mit an zusehen, wie die Fahrer zweier Fahrzeug ausstiegen und mit bedrohlichen Gesten lautstark aufeinander zugingen. Worum es ging, wussten nur die Götter. Materielle Schäden spielen in der Regel eine geringere Rolle, als jene, die möglicherweise die Verletzung der Ehre berühren könnten. Ein Verhalten, dass geradezu exemplarisch ist für diese Gegend der Welt. Man stelle sich vor, gerade in solch einer Situation, die Frage zu stellen, ob sich nicht irgendwelche Projektionen entfalten? Die geballte Aggression kann doch nicht im Kontext eines Verkehrsdeliktes stehen? Wessen Hals wollen die Protagonisten dieses Geschehens denn umdrehen? Des Vaters, des Staates oder den der allgegenwärtigen Mutter. Die Beziehung zwischen Mutter und Sohn ist insofern interessant, weil sich hier eine Dialektik entfaltet, die aus einer Kombination matriarchalisch-patriarchalischer Struktur besteht. Der Sohn bleibt ein ewiges Kind unter der Schirmherrschaft der Mutter. Sie schützt und verteidigt ihn in guten und in schlechten Dingen.

Andere Absurditäten erschwerten zusätzlich die Weiterfahrt. Die Kraft der Hitze modifizierte das Meer der Bleche und ergänzt es durch geöffnete Hauben, dampfende Motoren. Fahrerlose Fahrzeuge standen neben Waren der »Fliegenden Händlern«, die zwischen den Restflächen abgestellt worden sind. Viele Hände halfen und schoben die erschöpften Fahrzeuge zum Rande der Straße. Das Hupkonzert zwang einige Helfer zur Rückkehr, denn die Ungeduldigen wollten einige Meter voran rollen.

Der Verkehrstrichter in Richtung Bagdad entsprach der kleinen Öffnung in »Cinema Kabul«. Eine kleine Öffnung zum Kartenverkauf. Alle, natürlich außer Frauen, stürmten dahin, um Karten für den neuesten Bollywood Film zu bekommen. Da die englische Tradition des »queueing« unbekannt war, hasteten sie von allen Seiten auf diese Öffnung zu. Als wollten sie, durch dieses Nadelöhrchen, in das Innere des Gebäudes gelangen. Am Ende bekamen fast alle ihre Karten. Zugleich verloren einige ihre Turbane, andere gingen mit den Fäusten aufeinander los, andere wiederum wurden bestohlen, oder sexuell belästigt.

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Bagdad zierte sich – wollte das Ankommen in der Stadt selbst allen schwer machen. Nach Mühen begann die Fahrt in das Innere der Stadt. Zunächst waren auf beiden Seiten der Strasse ein- bis zweistöckige Bauten zu sehen, die mehrheitlich aus Autowerkstätten, Ersatzteilläden und Tankstellen bestanden. Je weiter man in Richtung des Zentrums gelangte, umso stärker nahmen die baulichen Verdichtungen zu. Mehrgeschossige Bauten, orientalisierte Formen und Dekorationen, Bögen, Kuppeln, und andere Zutaten architektonischer Eklektizismen, prägten das Bild der Stadt. Hinzu kamen natürlich die halbfertigen Wohnhäuser, als wäre dem Besitzer das Geld ausgegangen, oder aber der Weiterbau erst auf den Zuwachs der Familie warten musste. In der Region ein bekannter Bauprozess.

Erst in unmittelbarer Nähe der Altstadt, die durch den Tigris in Al-Rusafa und Al-Khark geteilt wird, spürt man die Anmutung einer orientalischen Stadt. Nicht weit entfernt war der Busbahnhof. Dort angekommen ging der Kampf um die Suche des eigenen Koffers los. Kofferträger schnappten sich ein, zwei, drei Koffer, ohne zu erkunden wem sie gehören könnten. Um den eigenen zu erobern, wurde eine Gegenleistung in monetärer Form verlangt. Endlich war alles beisammen und die Fahrt in Richtung Al-Mansur konnte fortgesetzt werden.

Al-Mansur, ein moderner Bezirk in Bagdad, der sich vor allem in den 60iger und 70iger Jahren des letzten Jahrhunderts städtebaulich-architektonisch besonders entfaltet hat. Hier wohnen die Reicheren, hier gab es die Pferderennbahn, die berühmten Clubs nach britischer Tradition und die Residenzen der Botschaften. Al-Mansur lag strategisch günstig zwischen der Stadtmitte und dem internationalen Flughafen. Die städtebauliche Anlage des Bezirks entsprach den Ideologien und Konzepten der Nachkriegsmoderne mit orientalischen Zusätzen und Missverständnissen. Netzartig angelegt mit unterschiedlich großen Grundstücken für Villen, Reihen- und Punkthäuser, Einkaufszentren, Plätzen, Parks und breite überdimensionale vierspurige Straßen versehen mit Grünstreifen. Grün bedeutete eher vertrocknete Pflanzen, sowie Gras- und Blumenbeete und auch teilweise Palmen. Wenn sie nicht vertrocknet waren, so waren sie mit einem Schleier aus Sand und Staub überzogen. Dieser Schleier legte sich auf allem nieder und schaffte eine gewisse einheitliche Ästhetik.

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Auf dem Parkplatz vor einem neugebauten Supermarkt-Komplex endete die Fahrt. Erstaunt fragte man sich: Wo wird man wohnen? Wie ein Turm stand, in räumlicher Entfernung das Treppenhaus mit einem Aufzug, der etwa die Größe eines Lastenaufzuges hatte. Dort wurde man freundlich und mit Gesten des Willkommens durch den Hausmeister begrüßt, dieser versuchte den Aufzug nach unten zu rufen. Dabei drückte er mehrmals erregt den Aufzugsknopf, als könnte er ihn dadurch schneller nach unten bewegen. Im Aufzug begann man religiös zu werden. Denn seine Mühen nach oben zu gelangen, erinnerten an die letzten Kräfte eines verhungerten, alten Esels, der im Begriff war seinen Geist aufzugeben.

Das Treppenhaus war durch eine Brücke mit dem Obergeschoß verbunden. Eine Tür führte in eine große, überdachte Halle. Von hier aus erschlossen sich die Wohnungen. Die Wohnungen bestanden aus zwei bis drei Zimmern mit Balkonen zur Straße oder zum Dach des Supermarkts hin, das aus einer Landschaft nicht gedämmter Belüftungsrohren bestand. Der Zementgeruch, die Mörtelreste im Waschbecken, die braune Brühe aus dem Wasserhahn und die Kakerlaken bezeugten, dass die Wohnungen bislang nicht bewohnt wurden. Unter diesen Umständen und einer asketischen Möblierung, sollte die erste Nacht über dem Dach des Supermarkts verbracht werden. Also nicht wie in den Märchen und Fantasien über den Dächern von Bagdad weilend, sondern in einem architektonischem Missverständnis aus Stahlbeton.

Stahlbeton in Kombination mit Hitze und einer Schaumstoffmatratze ermöglicht bekanntlich eine schlaflos-feuchte Nacht, die in Erinnerung bleibt.