Haralampi G. Oroschakoff: Paris Bar [15]

Schnitt. Jetzt ist es dunkel. Kein Laut. Die Silhouette einer Stadt, von der erleuchteten S-Bahn durchbohrt. Auf der Kantstrasse, vor den Schaufenstern der Paris Bar, halten die Busse. Wir werden es später im Film noch oft erleben, dass der Held in einem Augenblick hellsichtigen Schweigens zum Fenster geht, es mit entschlossener Geste weit öffnet und draußen, leichte Swingmusik setzt ein, »da fliegen die Stare, es murmelt der Bach, die heiteren Jahre…«

Wer zum Henker ist Michel Würthle? Ist er ein Schmähtandler? Ein genusssüchtiger (verantwortungsvoller) Egoist, ein selektiver Juror mit Realitätssinn oder ein Künstler mit Hang zum Luxus?

Michel Würthle, Jahrgang 1943, wurde im schönen Salzkammergut am Hallstätter See geboren. Der einzige Sohn eines Diplomaten und späteren Historikers und einer verarmten Adeligen aus dem Norden Italiens beginnt im Jahre 1964 das Studium der Malerei in Köln und Wien. Sein Vater Fritz ist zu diesem Zeitpunkt Kulturattaché an der österreichischen Botschaft in Bonn und quittiert den Staatsdienst, um sich fortan Fragen Südost-Europas zu widmen. Jedem Österreicher bleibt das Wunder der Souveränitätserklärung auf dem Balkon am Wiener Ballhausplatz in Erinnerung. Hinter Bundeskanzler Figl erkennt man auch Fritz Würthle bei dieser historisch einmaligen Befreiung von der sowjetischen Besatzermacht. Während der Vater sich an die wissenschaftliche Ausarbeitung der Dokumente zum Attentat auf den K.u.K.-Thronfolger, Erzherzog Franz Ferdinand in Sarajewo macht, schmeißt Michel, frustriert von der bornierten Biederkeit Wiens, das Kunststudium hin und entscheidet sich für ein extravagantes Nomadenleben ohne Netz zwischen Positano, Rom, Paris, Abidjan und Athen – Rumba, Swing und all die Sachen. In der durchlöcherten Garderobe eines englischen Lords, das dazugehörige Landgut auf Syros folgt in dessen Verkörperung durch die griechische Seherin Katharina Dukas später, landete er bekanntermaßen in Berlin. Mit nicht viel mehr im Gepäck als dem geistigen Rückhalt einiger der besten Köpfe seiner Zeit (Konrad Bayer, Oswald Wiener, Walter Pichler, Dieter Roth, Kurt Kocherscheidt, Martin Kippenberger, Damien Hirst) stürzt er sich Hals über Kopf in ein Experiment: die Arbeit im deutschen Alltag. Der Rest ist bekannt: der Beginn mit den Mattala, danach das Exil, legendär gewordenes Auffanglager der Avantgarde und ihrer Garde, Axbax und schließlich die Paris Bar. Ich liebe dieses Bild: Michel an der Tür, die Speisekarte straff an die Seite geklebt, Reinald kerzengerade vor neuen Rekruten und darüber das babylonische Sprachgewirr nach dem Sündenfall als Schaulager. Ingrid Wieners Gobelins markieren den Eingangsbaldachin, Martin Kippenbergers erstes ›Paris Bar‹-Bild aus der Reihe »Lieber Maler male mir« im gelben Seitenlicht gegenüber, rechts von der Barverlängerung aus gesehen und Damien Hirsts Sitzbegrenzung im Durchtritt. Mittlerweile ist dessen »Rinderkopf-Apostel« durch Polanskis milchige Skulptur ersetzt und Kippenbergers Gemälde für Millionen versteigert worden. Stattdessen hängt nun ein Gemeinschaftswerk von Albert Oehlen und Jonathan Meese. Mein »Bauchredner«-Bild ist auch zum nächsten Marktplatz marschiert, dort prangt jetzt Michels Gemeinschaftsarbeit mit Daniel Richter. Einzig Vadim Zakharovs »grmpwuschmpf« vergilbt immer noch unter der Decke. Im Heiligen Schrein unter der Theke wohnt das tableau vivant: zwischen Serge Gainsburg und Piero Manzonis »Künstlerscheiße« liegen die Petrusflaschen auf ihren Messingklammern und werden von zwei Büchern aus dem Berlin Verlag erhöht: Martin Kippenbergers Biografie und meine »Battenberg Affäre« verweisen still auf das elisabethanische Zeitalter, das heroisch Literatur, Wagemut und Buchkunst vereinigt hatte. Daneben die Aufforderung: »be an artist« von Emmett Williams.