Gennaro Ghirardelli: Nachtgänge durch Kairo [15]

Wir machen einen Spaziergang in die Altstadt; es geht gegen sechs Uhr, dem Sonnenuntergang zu. Rolläden fallen scheppernd, die letzten Ladeninhaber und Händler machen sich auf den Heimweg. Es wird so still, wie sonst nie in dieser Stadt. Wir schwenken auf einen kleinen Platz ein und setzen uns auf ein Mäuerchen. Kein Mensch ist mehr auf der Straße, aber wir spüren, dass wir noch von mehreren Seiten, von Balkonen und hinter zugezogenen Läden beobachtet werden. Keine Bewegung – als hätte selbst der Wind aufgehört, kein Hauch mehr. Alles ist nach innen gewendet, nur noch auf den Magen und auf die Vorbereitung zur Nahrungsaufnahme konzentriert. Dann die Böllerschüsse, das Zeichen zum Fastenbrechen – und wieder Stille. Jetzt aber geht rund herum in den Häusern über uns ein Geklapper los, Löffel, die auf Porzellan schlagen, Teller, die zusammengestellt werden, nach und nach setzen menschliche Stimmen ein, und nach einer geraumen Weile kommen die ersten Bewohner wieder aus den Häusern auf die Straße, immer mehr, bis das Leben im Freien seinen gewohnten Rhythmus erreicht. Später, gegen Abend, steigert sich das Getümmel in der Altstadt und überbordet vollends in die Nacht hinein. Alles drängt in die Gassen, will hinaus, sehen, gehen, reden, kaufen, feiern, Kaffee trinken, spielen, rauchen, lachen, rufen. Volk quillt überall hinein und hinaus, alle Kaffeehäuser sind überfüllt, in manchen sitzen Frauen und Männer durcheinander, alle Läden sind wieder geöffnet, die großen Zufahrtstraßen zu Azhar und Sayyidna Hussein hoffnungslos mit Autos verstopft, schlimmer als zu allen täglichen Stoßzeiten. Es ist Ramadan, in den ersten Tagen mehr denn je, danach kommt es zu einer gewissen Gewöhnung und Beruhigung, bis gegen Ende der Fastenzeit die Vorbereitungen zum Fest wieder mitreißen.

(Die englischen Zitate stammen von Stanley Lane-Poole, Cairo. Sketches of its history, monuments, and social life. 2. Aufl., London 1895.)

 

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Kairo, 1992       Gennaro Ghirardelli