Laura Solbach: Tagebuch Georges Adéagbo

Tag 2 /
Samstag der 29.01.2011

Als wir uns gegen Mittag treffen, spüre ich die vergangene Nacht wie einen leisen Schatten über meinem Kopf schweben.

Die Kamera ist auf dem Hirschgeweih montiert, dort wird auch der Ton angebracht.

Ich beginne, von Georges neugierig beäugt,  die verschiedenen Kabel zu präparieren.

Er selbst erhält eine Funkstrecke, so dass ich in der Lage bin, seine Worte jederzeit problemlos aufzuzeichnen.

Zu dritt gehen wir Richtung Altstadtflohmarkt.

Direkt am ersten Stand bleibt Georges stehen und kauft ein Buch für einen Euro. Für alle Ausgaben, die über diesen Betrag hinausgehen, ruft er Stephan zu sich, um die mögliche Anschaffung zu erörtern.

Ich folge den beiden mit der Kamera auf der Schulter und entdecke den Flohmarkt durch meinen Bildausschnitt, in den unaufhörlich Menschen hineindrängen, Georges und Stephan verdecken, um sie schließlich nach einigen Sekunden wieder sichtbar werden zu lassen.

Es ist, als müsse ich mich permanent freispielen, eintauchen in den Fluss der Straße.

Georges begutachtet, handelt, zieht Stephan zu Rate...

Auf meine Frage nach Georges’ Auswahlkriterien antwortet er, die Dinge müssten ihm etwas sagen.

Ich schließe, dass es keine rationale Wahl ist, die sich aus einem Nachdenken über die Verwertbarkeit, die mögliche Aussage für die kommende Ausstellung ergibt, sondern der Vorgang vielmehr einem »Sehen der Dinge« entspringt. Ein intuitiver Prozess, der um das Potential des Objektes weiß. Aber auch thematische Bezüge zur Ausstellung spielen eine Rolle bei der Auswahl.

Der Zufall trifft das Schicksal und bedingt so die Wahl.

Als wir an einer Art Holzskulptur anlangen, scheint Georges’ Sammlerinstinkt Feuer zu fangen. Hergestellt aus einem einzigen Holzstück, auf einen runden soliden Untergrund aufgesteckt, windet das Holz sich um seine eigene Achse in die Höhe.

An seinem Ende bildet sich ein rundes Gesicht.

Sechzig Euro soll das stolze Stück kosten. Am Preis ist nichts zu machen und so verwirft Georges den Gedanken, dieses Prachtexemplar zu erstehen.

Ich biete ihm an, ein Foto von der Skulptur zu machen, so könne man vielleicht das Abbild in eine Ausstellung einbringen.

Auf den Flohmärkten von León kauft Georges bereits für die nächste Ausstellung ein, die im April in Helsinki stattfindet.

Er nimmt meinen Vorschlag an und posiert neben dem Objekt.

Zufrieden betrachtet er die fertigen Fotos. In Georges’ Ausstellungen gibt es immer wieder auch Fotos von ihm selbst.

Die einzige Gelegenheit, Georges in der Ausstellung »Eine Mission und die Missionäre« noch einmal allein zu filmen, ergreife ich nach dem Flohmarktbesuch.

Wir gehen zu Fuß zum MUSAC und betreten die von der Öffentlichkeit noch unentdeckten Ausstellungsräume.

Georges erzählt, dass die Ausstellung eine Kompilation seiner bisherigen Arbeiten darstellt. Er deutet auf eine braune Cordhose: die habe er in Léon gefunden. Die Wände zweier großer Räume sind über und über mit verschiedenen Installationen versehen. Teils in Glaskästen drapiert, teils direkt an die Wand oder auf Brettern angebracht. Die Glaskästen sollen die Objekte vor dem erwarteten Besucheransturm schützen, der Sonntags auch viele Familien mit Kindern hierher führt.

Laut Octavio ist Sonntags ganz Léon im Museum. Ein kostenloser kultureller Luxus, den Spanien seinen Bürgern offeriert.

Ich muss erst einmal die Kamera absetzen, um mit den eigenen Augen zu sehen. Hunderte Objekte erstrecken sich vor mir im Raum, beginnen Gedanken und Erinnerungen zu beschwören, bilden zusammen wieder eigene visuelle Gebilde. Ein Nietzsche-Buch ist Bestandteil eines großen Kreuzes auf dem Boden des hinteren Raumes. Daneben eine Flasche Rotwein. Im ersten Raum wird Sarkozy in einen neuen Kontext gebettet, werden Sinnzusammenhänge durch verschiedenste Objekte neu geschaffen. Es entstehen assoziative Verbindungen im Betrachter jenseits der allgemein propagierten französischen Politik oder Carla Bruni.

Ich durchquere  einen Raum, in dem, neben zwei weiteren Installationen, Aussagen von Georges und Photos an die Wand projiziert werden. »C'est l'art qui fait l'artiste.« Ein Satz, den ich von Georges selbst noch öfter hören werde und der eine zentrale Stelle in seinem Nachdenken über den Standpunkt des Künstlers einnimmt. Manchmal wirkt die Aussage zurechtgelegt, wie eine Art Schutzschild, das Georges’ biographischen Hintergrund und damit die Interpretation seiner Installationen als biographischer Materialisierungen ausklammert. Man muss unbedingt absehen von vorschnellen Psychologisierungen, aber den Menschen Georges Adéagbo, sein Erlebtes außer Acht zu lassen, den Schaffenden gänzlich als Medium zu betrachten, das sehe ich ebenfalls als grobe Vereinfachung.

Ich spüre, wie auf der einen Seite Georges’ Sätze meine Konzentration und Aufmerksamkeit fordern, meine Gedanken Eingang in das Gesagte finden, und wie auf der anderen Seite die technischen Herausforderungen aufgrund der extrem offenen Blende und damit verbundenen hohen Tiefenschärfe ihren Tribut fordern. Mein Auge will sich den Bildern gedankenlos öffnen, der Geist will folgen und muss vom Französischen ins Deutsche übersetzen.

Viele Gedanken, die Georges äußert, sind für mich alles andere als selbstverständlich.

Ich frage nach, manchmal mehrmals, um den Sinn für mich zu verorten.

Ich müsste mich teilen, müsste zwei werden oder in Zukunft mit einer weiteren Person zusammenarbeiten, um dieser Aufgabe in bester Weise gerecht werden zu können.

Was für eine Aufgabe ist das überhaupt? Ich bin nach Léon gefahren, um genau das herauszufinden. Ich beschreibe es Georges als Weg, auf dem man zu gehen beginnt, ohne zu wissen, wohin er führt, un voyage.

Ich werde es wie Georges halten, irgendwann »einfach sehen« im Sinne von ›wissen‹.

Mit Heißhunger verzehre ich einen Salat mit Meeresfrüchten.

Nur noch eine Stunde bis zur Ausstellungseröffnung. Kollektiv beschließen wir etwas später aufzutauchen, so dass mir noch eine kleine Ruhepause im Hotel vergönnt ist.

Als ich gegen halb sieben im MUSAC auflaufe, sind Georges und Stephan noch im Hotel, da sie bis kurz zuvor dem begrüßenden Minister ihre Aufwartung machen mussten. Ich schnappe mir mein Equipment und treffe, noch ehe ich die Ausstellung erreiche, auf die Fritelli-Brüder.

Matteo und ich gehen einen Café trinken. Schließlich beginnt er im hinteren Raum zu filmen, ich im vorderen. Als ich nach einiger Zeit in den hinteren Raum komme, filmen wir uns gegenseitig.

Immer mehr Menschen treffen ein, viele aus Madrid. Ich fange an, mich in meiner Rolle wohl zu fühlen: es fühlt sich richtig an.

So wurde aus dem Zufall, dass ich Stephans Text über Georges las, ein Gedanke, daraus eine Entscheidung, die mich geradewegs nach Léon führte, und hier habe ich nun die Wahl. Ob all das Schicksal ist? Die Frage lässt mich schmunzeln, sie ist weder entscheidbar noch zu diesem Zeitpunkt relevant.

Ein kleiner Junge stellt sein Spielzeugauto zu einem Aufbau von Objekten. Wir lachen angesichts der organischen Erweiterung. Anscheinend laden Georges’ Installationen nicht nur zum Weiterdenken ein.

Das anschließende Essen will auch contemporary art sein. So sieht es zumindest aus. Wie zeitgenössische Kunst schmeckt, wusste ich bis dahin nicht. Bei manchen Dingen sollte man es simpel halten.

An diesem Abend schaffe ich es, um zwei Uhr die Kurve zu kratzen, ganz in Erwartung des morgigen Drehtags. Einem ganzen Tag mit Georges und Stephan allein. Simone Fritelli bedauert kurz meinen frühen Abgang, jetzt wo man sich gerade etwas kennengelernt habe. Zuerst der Gedanke an Konkurrenz, sie könnte das Geschäft beleben, oder sich als etwas ganz anderes herausstellen. Aber letztendlich gibt es keine Konkurrenz. Niemand hat des anderen Sein und Auge, und damit ist die Sache dann auch gegessen.

Am nächsten Morgen habe ich um elf Uhr einen Interview-Termin mit Octavio im MUSAC. Sein Lachen verschwindet in der Nacht Richtung Bar und ich ahne, dass auch ich wohl länger schlafen könnte…


Georges Adéagbo, Flohmarkt in León