Haralampi G. Oroschakoff: Paris Bar [12]

Einige Jahre später, Ostern 1994, kam ich erstmalig nach Berlin, dem Wohnort meines Großvaters Haralampi, wo er 1916 nach dem Wiener Doktor der Chirurgie an der Kaiser-Wilhelm-Universität den obligatorischen Doktor Jura verteidigt hatte. Über zehn Jahre lebte er hier, seine uneheliche Tochter Emilie Hundertmark wurde hier geboren und vom meinem Vater in Wien niemals anerkannt.

Zum damaligen Zeitpunkt, die besorgte Gesellschaft in Deutschland entdeckte gerade den Jugendwahn, organisierte ich das »Kräftemessen«-Festival in München, wo ich seit 1983 lebte. Zusammen mit Margarita Tupitsyn, Boris Groys und Victor Miziano, wollten Johanna und ich einen generationsübergreifenden Überblick der zweiten russischen Avantgarde am Ende dieses Jahrhunderts der Ideologien vorlegen. Ich war auf der Suche nach ergänzenden Pfeilern im Ost-West-Gefüge in Berlin. Tina Bauermeister hatte als Treffpunkt die Paris Bar vorgeschlagen – das steigerte meine Neugierde. Sie saßs im schwarz/weiß Geblümten mit Nikolaus Sombart an den schwarzen Tischen in der Lederecke, schräg gegenüber der Tür und der weißen eingedeckten Seite, der Überzahl. Mein Blick schweifte vom schwarz/weiß gefliesten Boden zu den bildverhängten Wänden rundherum, den Kippenbergers (heute Teil der Flick Collection), Julian Schnabels Michel-Portrait, Werner Büttner, Markus Lüpertz, Karl-Heinz Hödicke, Joseph Beuys, Georg Baselitz, Dieter Roth, Robert Rauschenberg und rechterhand darüber das schwebende Fallen-Bild Daniel Spoerris, mittlerweile um Meusers stoischen Blick hinter den Mänteln ergänzt und vom spritzenden Orgasmus Maria Papadimitrius gekrönt. Dazwischen der Hungerturm: knapp bemessen in der gläsernen Rundung, die sich als durchsichtige Entsprechung zur Straßenseite hin verdoppelte. Das Lokal war um die Nachmittagszeit kühl und leer. Ein schürzenbewährter Osmane stand neben der Theke, zwei Südländer unterhielten sich dahinter. Für-sich-sein war nicht vorgesehen, Bei-sich-bleiben eine Möglichkeit. Während ich auf Tina zuging, erschien mir in diesem ruhigen Augenblick die Paris Bar als das schönste Lokal der Welt. Diese abgesessene Sackgasse vorhergehender Schlachten des Zeitgeistes wurde mir von nun an zur Gewohnheit. Beschützt von den »Colons« darüber, Ken Lums »Pete Norris could use a drink«, Isa Genzken und den Blick auf die Kantstraße begrenzend, Walter Pichlers »Haus des Malers« auf Syros, seine einzige fest installierte Skulptur außerhalb des St. Martin-Komplexes. Sarah Lucas »Piguwanker« schüttelte sich beim Niedersetzen ab, nachzitternd. Jetzt galt es noch die Vorzüge des Rauschhaften zu erfüllen.