II
Auf den ersten Blick scheint Michel Serres der absolute Kontrapunkt zu Ute Guzzoni zu sein. Kommt Guzzoni von der Phänomenologie und von Heidegger her und favorisiert sie die Sinnlichkeit des Sehens, so ist Serres von der Mathematik und dem Strukturalismus geprägt. Sie ist am Phänomen des Wassers interessiert, wie es einem sinnlich offenen Bewußtsein erscheint, er geht der Struktureigentümlichkeit nach, die etwas wie Wasser für unsere Wissenssysteme darstellt. Dabei wendet auch er sich in seinem späteren Werk einer Philosophie der vollen Körperlichkeit und Sinnlichkeit zu.
Band IV von „Hermes“ beginnt mit den Worten „Im Anfang war das Tohuwabohu. Wir sagen heute: das Rauschen ... Unsere Ahnen sagten: das Chaos“.[ 40 ]
Serres nennt es auch „Wolke“. Mit solchen Worten meint er Phänomene, die undifferenziert erscheinen und über die wir nichts Genaues wissen in dem Typ von Wissen, der uns Genauigkeit definiert hat. Es erscheinen unscharfe Mengen unbekannter Objekte: nicht durch Lokalisierungen identifiziert und nicht durch Klassifikationen differenziert. Während wir meinen, über die Erde ein sicheres, geordnetes und differenziertes Wissen zu haben oder wenigstens meinen, es haben zu sollen, und gleichermaßen über den Kosmos der Sternenwelt, gibt es immer im Zwischenbereich so geordneter Universen eine Welt, in der es ganz unordentlich zugeht: die Welt meteorologischer Erscheinungen, der Meteore auch, der Sternschnuppen, der Wolken u. ä. Hier entfaltet sich eine prächtige, reiche Unordnung, mit der die große Theorie nichts anzufangen weiß. Aber man kann es auch umwerten. Dann ist die Unordnung nicht mehr der residuale Zwischenbereich des noch nicht Geordneten, sondern dann erscheinen all die alten geordneten Systeme unseres Wissens nur noch als verstreute und verlorene und von Pedanten bewohnte Inseln in einem endlosen Meer des Unwissens und der Unordnung, in dem wir uns gleichwohl zurechtfinden müssen und im großen und ganzen auch zurechtfinden können, und zwar ohne die Hilfe der Theorien der imperialen Wissenschaften, die den Überblick über das Ganze wollen, statt sich mit dem Durchblick im anstehenden Einzelfall zu begnügen, der sich dann in komplexen Situationen sich einer transversalen Vernunft bedient.[ 41 ] So ist dann die sorgfältig geordnete Welt nur eine ziemlich unwahrscheinliche Ausnahme.
„Das Rationale hat den Charakter einer Fehlstelle, ist ... eine Randerscheinung. Eine Ultrastruktur, die zeitweilig aus der Wolkenbank auftaucht. Bildlich gesprochen, ist die Welt die Ausnahme und das Meteorologische [bzw. Meteorische, K.R.] die Regel. Das Rationale ist im strengen Sinne unwahrscheinlich. Gesetz, Regel, Ordnung, alles, was wir so bezeichnen, sind so unwahrscheinlich, daß sie an die Grenze dessen kommen, was eigentlich gar nicht sein kann.“[ 42 ]
„Das Seiende - und das ist eine Tautologie - ist das Wahrscheinlichste. Und am wahrscheinlichsten ist die Unordnung. Die Unordnung ist fast immer da. Das heißt Wolke oder Meer, Sturm oder Rauschen, Gemisch und Masse, Chaos, Tumult. Das Reale ist nicht rational. Oder allenfalls im äußersten Grenzfall. Wissenschaft ist daher immer Wissenschaft der Ausnahmeerscheinung, des Seltenen und des Wunders. Wissen ist immer das Wissen über Inseln, über Sporadisches und über Ultrastrukturen.“[ 43 ]
Die Grundstruktur ist nunmehr ein Gewimmel (profusion), ein Wirbel (turbulence) und eine Wolke (nuage). Für Serres ist das Fließende und Strömende, sind die Turbulenzen, die Vermischungen, das Unscharfe und Verschwimmende das Normale; das feste, Bestimmte und Begrenzte ist die Ausnahme:
„… und alles, ohne Ausnahme, ist Wolke. Alles fließt. Es fließt. Und falls es Dinge gibt, materielle Dinge und Botschaften, wenn es Sinn, geordnete Strukturen oder gar Systeme gibt, falls es sie denn gibt und wenn es sie gibt – und es gibt sie, daran läßt sich kaum zweifeln -, dann nur in Gestalt von Archipelen. In Gestalt von Sporen, die über den weiten, formlosen Ozean verstreut sind.“[ 44 ]
So ist eigentlich die Welt – die für uns als Form erscheinende Welt als Hintergrund aller Dinge – die Ausnahme. Auch die menschlichen Körper bestehen zu mehr als 50% aus Wasser, d.h. aus Unordnung – übrigens sind weibliche Körper, entgegen den Mythologien und Ideologien, „trockener“, weniger wasserhaltig als männliche.
Man sagt mit Heraklit[ 45 ], daß man nicht zweimal in denselben Fluß steige, erstens weil das Fließen die Performanz der Nichtidentität ist, zweitens aber auch weil diese Nichtidentität im Fluß der Zeit auch das Selbst tangiert; mit Kratylos sagt man, daß man nicht einmal in denselben Fluß steigt, weil Identität immer fraglich ist; denn es gibt (vermutlich) keine Substanz, die fließt, sondern das Fließen ist die Substanzlosigkeit selbst (wie ja noch die Wellentheorie des Licht seit dem 19. Jh. behauptet).
Nietzsche lehrte als „Erlösung vom ewigen Flusse“: „… immer wieder steigt ihr in den gleichen Fluß, als die Gleichen.“, weil der Fluß immer wieder in sich zurückkehrt.[ 46 ] Und Michel Serres schließlich sagt: „Wir steigen stets in denselben Fluß,“ und er fügt hinzu, „aber wir setzen uns niemals an dasselbe Ufer.“[ 47 ] Was kann damit gemeint sein? Organismen sind weder statisch, noch homöostatisch, sondern homöorhetisch. Das heißt, das Leben muß, darin Bergson folgend, wie ein Fluß verstanden werden. „Ein fließender Strom, aber stabil in der beständigen Abtragung seiner Ufer und der irreversiblen Erosion der Gebirge.“[ 48 ]
In einem gewissen Sinne, der sozusagen die Perspektive des Flusses eingenommen hat um zu verstehen, wie das offene System eines Organismus funktioniert, ist das Wasser der Flusses immer dasselbe, weswegen ja auch Flüsse ihre identitätsverbürgenden Namen tragen, zwar eben nicht substantiell, weil es darauf ebenso wenig ankommt wie darauf, ob ein bestimmtes, substantiell identifizierbares Eiweißmolekül sich innerhalb oder außerhalb meines Körpers befindet. Der Fluß ist mit sich identisch in einem Übergangs-Sinne. Es gibt Orte, an denen die Übergängigkeit des Wassers intensiver gespürt werden kann. Wenn man diese Orte aufsucht, dann „weiß“ man etwas, was durch den methodisch geregelten Gang nicht erreicht werden kann. Serres benennt diese Orte: „Im Watt, wo das Wasser das Land umspielt und der Wind es liebkost; in den Tiefseegräben, wo das Feuer seine Lava in der Lake des Meeres erstarren läßt …“[ 49 ] Selbst der Aggregatzustand eines Wassers in Verdunstung, Nebel und Wolken, Vereisung und Beregnung spielt keine Rolle. Man schreit nicht, daß das Steinhuder Meer sich „aufgebe“, wenn es darein regnet. Was dagegen für das Wasser eines Flusses instabil ist, das sind seine Ufer, sein Flußbett, sein Schwemmland. „Stabil ist das Fließende, instabil das Feste, das sich abnutzt.“ [ 50 ]
Dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik zufolge sind lebende Organismen und das Fließen des Wassers irreversibel. Wir leben stets von der Geburt zum Tod, nie umgekehrt, und das Wasser fließt immer von der Quelle zur Mündung. Aber zwischendurch erzeugt jedes Fließen Wirbel und Turbulenzen, d.h. gegenläufige Tendenzen. Die Entropie führt hier die Negentropie mit sich, ist mit ihr verwoben. Zwar führt das Leben stets von der Geburt zum Tod, aber nicht auf dem kürzesten, ökonomisch gebotenen, weil ressourcensparenden Wege, sondern wie Wasser mäandert es, Umwege, d.h. Kultur, bildend, in Turbulenzen und Irritationen. Noch niemand hat empfohlen, zwecks Reduzierung der CO2-Emission, das Atmen einzustellen, oder um Energie zu sparen, das Sich-Bewegen. Und hinsichtlich der Flüsse haben wir inzwischen gelernt, daß es ziemlich unsinnig ist, durch Begradigung den Abfluß des Wassers zum Meer zu beschleunigen.
Was heißt das für den Fluß der Zeit? Wenn sich Entropie und Negentropie in einem Wirbel durchkreuzen, dann bilden sich dort in einem rückkoppelnden Zeitknoten Augenblicke, in denen die Zeit stillsteht, wie ein Strudel im Wasser das Fortfließen partiell sistiert. Das Wasser fließt, aber in einer Schleife scheint es Widerstand dagegen zu leisten. Es gibt im Leben wie im fließenden Wasser Inseln der Zeitenthobenheit. Im allgemeinen Chaos des ungeordnet Fließenden bilden sich – vorübergehend – Inseln der Ordnung, Rationalitäten wie eine Ruhe vor dem Sturm der Wellen: „Das Rationale, wie man es einst nannte, ist eine Realitätsinsel…“[ 50 ] Aber das ist zugleich eine Problem für die Philosophie: ihre Begriffe, besonders in einer für das Philosophieren besonders ungeeigneten Sprache wie dem Englischen, sind gebildet als Bezeichnungen für feste Körper (Dinge und Orte) mit festen Grenzen zur Umgebung. Diese Problematik hatten erstmals Bergson und Nietzsche zum Thema gemacht. Die Sprache der Begriffe für feste Dinge versagt am Fließen des Wassers. Man müßte eine neue philosophische Sprache erfinden,[ 52 ] die das Fließende darstellen kann und die Festlegungen (Definitionen) der Grenzen fester Dinge und Begriffe für sie verläßt und Grenzzonen zwischen Festem und Flüssigem, Uferzonen, Strände und Watt, auch Sümpfe und Moore aufsucht, Wolken auch, deren Grenzen und Gestalt unsicher sind.[ 53 ] Fusionen und Konfusionen sind in diesen Übergängen von Ordnung und Chaos das Normale. Ein anderes Phänomen der Übergänge sind die Spiegelungen fester Körper im Wasser und, wenn es ein Narziß ist, der Verlust des festen Bewußtseins im oder am Fluidum. Durch Deiche und Dämme definiert sich das Festland, die Insel der Ordnung;[ 54 ] aber das chaotische Wasser ist nicht bezwungen, es wartet nur in einem Spiel, dessen Regeln der Oszillation es bestimmt: die nächste Sturmflut, das nächste Hochwasser umspielt oder überflutet alle Definitionen.
Wenn wir einen festen Körper wie z. B. eine Eisenkugel sehen, können wir bereits ahnen, wie sie sich anfühlt, die anderen Sinne sind konkordant zum Seheindruck. Die Nässe von Wasser, Regen und Nebel zu fühlen dagegen ist ein ganz anderer Eindruck als ein Meer, eine Quelle, einen Fluß, eine gefüllte Badewanne oder ein Aquarium bloß zu sehen. Wasser wird diskordant erfahren. Der Übergang vom Geordneten zum Chaos läßt sich inzwischen auch ganz anders erfahren, wie uns die Turbulenzen der Finanzmärkte erahnen lassen. Hier ist es nach der Theorie von Minsky (aber auch von Mandelbrot) so, daß gerade durch die Konkordanz zur unterstellten Normalität, d.h. wenn alle das Vernünftige tun, ein Einbruch des Chaos unabwendbar wird.[ 55 ]
Wenn das so ist – und es ist so, daran läßt sich kaum zweifeln… -, dann hat das In-See-Stechen als Performanz eines Übergangs eine ganz besondere Bedeutung, die Serres mit dem Begriff der „Ablösung“ bezeichnet. „Wenn Schiffe ablegen, strecken sie ihre ‚Fühler‘ einer Welt entgegen, die gegenüber dem Alltag zu Lande fremdartig anmutet: Auf hoher See ähnelt nichts mehr dem, was man hinter sich gelassen hat.“[ 56 ] Man läßt alte Verwurzelungen, Bindungen und Gründungen hinter sich. Der Übergang vom Land zum Meer ist ein radikaler Übergang,[ 57 ] weil es nur weniges gibt, das im Wasser wie auf dem Lande gleicherweise gilt. Selbst die Schwerkraft, jenes eherne Gesetz der festen Körper und Körperteile gilt im Wasser nur für Körper, deren spezifisches Gewicht größer ist als dasjenige des Wassers; diese Körper sinken, alles andere schwimmt im oder auf dem Wasser. Daß Schiffe schwimmen, hat mit einer Überlistung des Wassers zu tun; normalerweise würden alle Schiffe außer den Floßen sinken, und es geschieht ja auch oft genug und hat oft genug als Warnung gedient,[ 58 ] das Meer nicht zu betreten oder zu befahren. Nur weil die Schiffe einen Bauch voll Luft haben, der vor Wassereinbruch geschützt ist, können sie schwimmen, solange die Trennung negentropisch aufrechterhalten werden kann. „Nach dem Ablegen im Hafen: Schiffbruch beim geringfügigsten Irrtum.“[ 59 ]
Serres ist Seefahrer und Alpinist zugleich, er sucht die Extreme, weil ihn der radikale Übergang in eine Sphäre anderer Gesetze, bzw. wenn man die Form der Gesetze der geordneten Welt für die einzige Form der Gesetze hält, in die Sphäre der Gesetzlosigkeit, des Chaos also interessiert. Meer und Gebirge sind für ihn Phänomene höchster Konkretheit. Den radikalen Übergang, die Ab-Lösung, nennt Serres auch den Moment der Heiligkeit.[ 60 ] „Von den Ufern sich lösen, das bedeutet eintreten in den kraftvollen Frieden der Winde.“[ 61 ] Begleitet ist die Emphase des Wagnisses der Seefahrt von einem Mißtrauen gegenüber der Landnahme: „Wie ist Bewegung möglich, bei steter Affirmation? Wenn die Erde voll und ganz in den Händen der Vernunft liegt?“[ 62 ]
Gleichwohl ist Orientierung im Wasser möglich. Serres beschreibt die Orientierung eines Kabeljaufischers:
„So fährt man nach Saint-Pierre: fahre so lange Richtung untergehender Sonne, wie du im Wasser eine bestimmte kleine Alge treiben siehst; wenn dann das Meer sehr, sehr blau wird, halte dich etwas links, da kannst du gar nicht irregehen; das ist die Gegend, wo die kleinen Tümmler sich mit Vorliebe aufhalten, wo es eine starke Nordströmung gibt, wo der vorherrschende Wind nur schwach, in leichten Böen bläst und die Dünung stets kurz ist, dann kommt das große graue Rechteck und dann die Gegend, in der man den Kurs der großen Eisberge kreuzt; wenn man sie sieht, liegt da die erste Bank, unter dem Wind.“[ 63 ]
Auch die Karten der ersten Kartenhersteller waren nichts anderes als solche Wegbeschreibungen; erst als sich die Kartographie mit dem politischen Interesse der territorialen Grenzsicherung verband, kamen die Kartographen mit dem Überblick auf.
„So konnten die Kartenhersteller behaupten, glauben machen und sich rühmen, Amerika entdeckt zu haben, während Hunderte von Fischern, den Spuren des Moirés folgend, dort gewesen und kein Aufhebens in der Geschichte davon machten. Der Triumph des geschriebenen Wortes führte zu einer Wahrnehmungskatastrophe. Das Zeitalter der Wissenschaft brachte neue Bilderstürmer auf der Ebene der Sinne hervor und zerstörte von Grund auf ein Wissen, das dem Wahrgenommenen sehr nahe war.“[ 64 ]
Serres führt diese zwei Orientierungstypen auf zwei Begriffe zurück: Methode und Randonnée.[ 65 ]
Für die Navigation mittels GPS,[ 66 ] d.h. vom virtuellen absoluten Überblick aus, spielt es keine Rolle, ob man sich gerade auf dem Meer oder auf dem Land befindet. Deswegen hat unser Navigationsgerät uns, die wir nach Sylt wollten, statt zur Autoverladung in Niebüll dort direkt ans Wasser gelockt und uns aufgefordert „Und jetzt 38 km geradeaus!“
Kant ist der Landvermesser,[ 67 ] Serres der Seefahrer, der eine hat das Land der Wahrheit vermessen, jedem Ding seine Stelle zugewiesen und fürchtet den Ozean des Scheins wie der Teufel das Weihwasser, der andere weiß, wie man in stürmischer See zu navigieren hat, gerade auch da, wovor Kant noch eindringlich warnt, nämlich wo eine Unterscheidung von Land und Meer schwerfällt und nur fallweise und übergangsweise möglich ist, in der Nordwestpassage.[ 68 ] Ganz ironisch äußert sich Serres über den Architektoniker des Festen und Unbeweglichen, der den gestirnten Himmel über sich und das Sittengesetz in sich bewunderte: „Und das ist mir wichtiger als der gestirnte Himmel über mir … Die Universalisten von einst empfanden das Sittengesetz nur nachts bei gutem Wetter: ein seltenes Glück an den Ufern der Ostsee.“[ 69 ]
Das Festland wird eingeteilt, aufgeteilt und kartographiert, das Land wird be-sessen, weswegen es die Nomaden/Zigeuner im restlos aufgeteilten Europa so schwer hatten, weil sie zu spät hier Angekommen sind. Ihr Raum in Europa stellte sich daher als Fluchtraum, als Korridor des Entkommens von dem Galgen, dar.[ 70 ] Im territorial aufgeteilten Europa dienten Gewässer oder im Gebirge Wasserscheiden oftmals als „natürliche“ Grenzen. Gewässer füllen, wie oben gesagt, den Abgrund zwischen den Welten, aber ebenso auch zwischen den Territorien, selbst noch die ganz neu gezogene Grenze zwischen Polen und Deutschland folgte den Flußläufen von Oder und Neiße. Das Meer dagegen entzieht sich allen Grenzziehungen.
Gleichwohl gibt es auch im Meer Dominanzen. Wer durch Handels- und Kriegsmarine bestimmte Routen für sich privilegieren und absichern kann, der ist eine Seemacht. Solches führt zwar nicht zu einer Aufteilung des Meeres, aber zu einer ebenso effektiven Bewegungsdominanz, die durch machtvolle Bewegungen und Befahrungen immer wieder bewiesen wurde und in Seeschlachten zur Entscheidung gebracht wurde: Lepanto 1571, 1588 Vernichtung der Armada. Anders als die Nomaden zu Lande hat es bis in die jüngste Zeit nomadische Piraten und Freibeuter gegeben. Eindrucksvolles Beispiel sind die Wikinger, die ganz Europa in Schrecken versetzten, weil sie überall unvermutet auftauchen konnten. Sie waren echte Nomaden des Meeres; denn sie hatten keine eigentliche Heimat, von der sie aufbrachen, um dann wie Odysseus zurückzukehren, vielmehr bildeten sie hier und da Stützpunkte ihres Nomadismus, in Norwegen, in England, in der Normandie und in Sizilien. Ja, sie fuhren mit ihren wendigen, seetauglichen kleinen Schiffen auch die Flüsse, die Adern des Festlandes hinauf bis in die Herzen der besiedelten und besessenen Territorien.
„Im Himmel, da reden die über nichts anderes als über das Meer“, daher muß, wer sterbenskrank ist, bevor er stirbt, das Meer gesehen haben, sonst kann er nicht mitreden darüber, wie wunderschön das Meer ist, das sagt der krebskranke, dem Sterben geweihte Martin dem ebenfalls unheilbar kranken Rudi in Thomas Jahns Film „Knockin‘ on heaven’s door“ von 1997. Und in Jim Jarmushs „Dead Man“ wird der sterbende William Blake von seinem indianischen Gefährten in einem Kanu auf das Meer hinaus bewegt.
Zum Vergleich mit Serres, dem Seemann und Bergsteiger, lohnt ein Blick auf Hugo von Hofmannsthals frühes Drama „Das Bergwerk von Falun“[ 71 ]. In diesem Stück gibt es eine bemerkenswerte Durchdringung von Wasser und Erde.[ 72 ] Elis Fröbom, den Namen hat Hofmannsthal aus der Bearbeitung der Geschichte von E. Th. A. Hoffmann übernommen,[ 73 ] war Seemann und wird Bergmann. Darin weicht Hofmannsthal (mit Hoffmann) von allen Vorlagen ab, aber er betont, anders als Hoffmann, die Konfrontation einer Wasserwelt mit einer Landwelt. Bei Hofmannsthal ist, anders als bei Serres, das Wasser durchgehend ein feindliches Element. Spät erfährt man, daß die Großmutter ihr erstes Kind durch Ertrinken in einem Bach verlor. Elis selbst hat sein Dasein als Seemann aufgegeben, als sein bester Freund im Meer ertrank und seine Mutter starb, als er auf dem Meer war. Das todbringende des Wassers durchdringt allerdings selbst den Berg. Dahlsjö, der Schachtbesitzer, schildert den fortwährenden Kampf der Bergleute mit dem Wasser, den seine Vorfahren erfolgreich, er selbst aber unterliegend führte: „frißt mich das Wasser“, sagt er.[ 74 ] Aber es ist nicht nur die Konfrontation oder die chiastische Durchdringung von Land und Meer, sondern es geht um eine Tiefenkorrespondenz. Und diese Tiefe ist in beiden Fällen der Tod: Schacht und Meer.[ 75 ] Nur dazwischen und zwischenzeitlich gibt es so etwas wie Leben. Diese Topologie des Dramas wird auf drei Orte zugeschrieben: das warme Haus, das fremde, flüchtige und wilde Wasser und der starre und finstere Fels.[ 76 ] Gewiß ist das Wasser nicht das Hauptmotiv des Dramas; aber gerade durch den Vergleich mit Hebel und auch mit Hoffmann wird die Bedeutung des Motivs klar, bei Hebel kommt gar kein Wasser vor, bei Hoffmann hat die Seefahrt eigentlich nur die Bedeutung der Abwesenheit, seine Hauptmotivkonstellation ist eher die von Licht, Finsternis und dem Licht der Finsternis.
So ist der Mensch einerseits ein Landwesen, er will einen festen Grund, auf dem er bauen kann und auf dem er einen Standpunkt einnehmen kann. Aber, und das sollten meine Veranschaulichungen durch die Theorien von Guzzoni und Serres zeigen, so einfach ist es auch nicht. Er ist gewiß wasserscheu wie eine Katze, aber dennoch getrieben von einer heimlichen Sehnsucht nach dem Wasser. Nicht daß er sich dort auflösen möchte, die Furcht Theweleits, und solche ideologischen und psychologischen Pathologien und Irrationalismen gibt es gewiß; aber das Interessantere ist die Bewährung im Bewegten. Wenn Mao sagte, daß sich der Partisan wie ein Fisch im Wasser bewege, dann meinte er genau das; denn Fische lösen sich nicht im Wasser auf, sondern nutzen seine Bewegtheit. Und der Partisan Maos nutzt die Zivilbevölkerung, aber er wird nicht zum Sozialdemokraten.[ 77 ] Das Interesse für das An-archische des Wassers huldigt einer anderen Rationalität als der des archischen Ordnungsblicks und seiner Methode.