I
Ute Guzzonis Buch „Wasser“[ 6 ] ist eine beeindruckende Studie über Orientierung in Bewegung, die sie schon mit dem vorhergehenden Werk über „Wandern und Wohnen“ begonnen hatte. Dort kulminierte die Untersuchung in der Formel „im Wandern wohnen“. Es ist, als wäre sie nun bei der 2. Strophe des 1818 von Wilhelm Müller geschriebenen Wanderlieds „Das Wandern ist des Müllers Lust“ aus dem Zyklus „Die schöne Müllerin“ angekommen, in dem es in der Vertonung von Franz Schubert von 1823 heißt:
„Vom
Wasser haben wir’s gelernt, vom Wasser,
vom Wasser haben wir’s gelernt,
vom Wasser!
Das hat nicht Rast bei Tag und Nacht,
ist stets auf Wanderschaft bedacht,
das Wasser, das Wasser,
das Wasser, das Wasser.“
So widmet Ute Guzzoni sich, als folgte sie nun dieser 2. Strophe, in diesem Buch dem Wasser. Sie stellt fest, daß seit Thales von Milet das Wasser nie wieder im Zentrum philosophischer Überlegungen gestanden habe. Damit hat sie nur insofern recht, als sie mindestens die Arbeiten von Michel Serres übersehen hat. Dessen Interesse für das Wasser, obwohl vom Ansatz und Methode grundverschieden, kommt sogar in den Ergebnissen dem ihren ziemlich nahe, nämlich als Interesse für das Unscharfe, das Unpräzise, die Turbulenzen und Ordnungsdurchbrüche und die Unberechenbarkeiten.
Guzzoni teilt ihr Buch in fünf Kapitel auf, die dem Wasser in seinen verschiedenen Erscheinungsformen nachgehen: als Meer, als Quelle und Brunnen, als Spiegel, als Fluß und als Regen, Wolke und Nebel. Sie wählt die Sinnlichkeit zum Leitwert und rückt das Begriffliche in den Hintergrund. So sind es die Bilder (und dem Buch sind eindrucksvolle Photographien beigegeben), die das Phänomen aufzuschließen versprechen. Nehmen wir als Ausgangspunkt den einfachen phänomenalen Sachverhalt, daß das Innere des Sichtbaren unsichtbar ist. Dann wäre eine erste Methode, die Spuren des Unsichtbaren von der Oberfläche des Sichtbaren aus zu befragen, die Oberfläche zu durchbohren. Was man aber damit tut, ist nichts anderes, als neue zuvor unsichtbare, nicht sichtbare Oberflächen mit neuen Unsichtbarkeiten in deren Innerem zu erzeugen. Es stellt sich die Frage, was es eigentlich heißen sollte, die sichtbare Oberfläche des Meeres zu durchbohren. Was haben wir uns als das unsichtbare Innere des Wassers vorzustellen? Teilt man das Wasser, erhält man als Teilungsresultate immer wieder Wasser, wie schon Thomas von Aquin bemerkte,[ 7 ] anders als beim Pferd, dessen Teile keine Pferde sind. Die Methode des Durchbohrens von Oberflächen, wenn von Philosophen durchgeführt, hofft ein substantielles Etwas oder das Wesen des oberflächlich scheinenden Dings zu entdecken, dann freilich in einem nicht räumlich gedachten Inneren. Diesem philosophischen Bohren nach der verborgenen Substanz widerspricht Guzzoni explizit: „Insofern das Wasser gewöhnlich flüssig, also nicht fest, und das heißt auch, ohne feste Grenzen ist, sich verströmend, ausufernd, eben fließend, widerspricht es der Konzeption der Substanz.“[ 8 ] Die Tiefe des Meeres birgt ein Geheimnis, das phantastische Gestalt gewinnt in den Tieren der Tiefe, den See-Ungeheuern.[ 9 ]
Das Geheimnis liegt zwar in der Tiefe,[ 10 ] aber die schamlose Obszönität, die es enthüllen („demaskieren“)[ 11 ] möchte, findet es nicht und erzeugt es ständig neu.[ 12 ] Die Bewegung des Meeres, die eine Bewegung auch seiner Tiefe ist, verbirgt und erzeugt seine Geheimnisse. Deswegen kann auch das Meer nur vom Land aus einer statisch-festlegenden Zuordnung unterzogen werde, sei es der für Schürfrechte zugeordnete Festlandsockel, seien es die Hoheitsgewässer rund um ein Festland, die von W. T. Krug dadurch bestimmt angesehen wurden, wie weit eine vom Festland abgeschossene Kanonenkugel reichte. Aber Guzzoni widerspricht denjenigen, die meinen, das Eigentliche des Denkens sei Festlegen, Durchbohren, Aufdecken und Gründen: „Das Schwebende, die Offenheit, das Unbestimmte könnten – wie wir heute zu sehen beginnen – dem Denken wesentlicher sein als die Sicherheit und Bestimmtheit, die ihm in unserer Tradition immer wieder zugesprochen und nahegelegt wurden.“[ 13 ]
Die dem Fließenden angemessene Aktivitätsform ist weniger das intentionsgeladene Ausführen einer Handlung nach Ursprung (archè) und Ziel (telos) als vielmehr das hingebungsvolle Sicheinlassen auf und Ausnutzen von Wogen. Trotzen und Nutzen sind die zwei Tugenden des Seefahrers über Jahrhunderte gewesen.
Wasser ist anti-architektonisch, aus und auf Wasser läßt sich nicht bauen. Andererseits füllt es mit Leichtigkeit Zwischenräume. Hesiod[ 14 ] wußte, daß das Chaos ein Zwischenraum zwischen dem Festen des Himmels und der Sterne, den man deswegen auch Firmament nennt, und der Festigkeit der Erde sei, dieser Zwischenraum ist ein Abgrund – und das ist wahrscheinlich auch der etymologische Ursprung des Wortes „Chaos“: das Gähnende, der Abgrund. Zenon von Kition[ 15 ] und die Stoiker interpretierten diesen Abgrund nun als Wasser, als Wolke, als Nebel, der sich im Zwischen von den beiden Festen des Firmaments und der Erde befindet und bewegt.[ 16 ] Ein Landschaftsarchitekt oder Gartenkünstler tut deshalb gut daran, dem ersten Garten-Künstler namens Gott bei seiner Einrichtung des Gartens Eden zu folgen und solche Zwischenräume des Fließenden vorzusehen oder zuzulassen. Mit unmethodischem Eigensinn (Eigen-Sinn, sens propre) macht das Wasser „Umwege, mäandert, bildet Strudel und Wirbel“[ 17 ]. Der Architektoniker wird immer wieder vergeblich versuchen, die Zwischenräume in Unmittelbarkeit zu tilgen oder mit Ordnungen zu füllen, damit das Wasser nicht eindringen kann.[ 18 ]
Die Anti-Architektonik des Wassers hat Konsequenzen für die Temporalstruktur des Zwischen. Hatten Theorien der Zeit, der Zeit des Bewußtseins und des Lebens, seit der Antike, dann aber verstärkt bei Brentano und Husserl, Zeit im Bild eines kontinuierlichen Fließens konzipiert, so versucht Guzzoni, eine Abweichung davon zu denken: „Könnten die Strudel und Gegenströmungen nicht auch einen diskontinuierlichen Zeitverlauf nahelegen, mit Augenblicken des Verweilens, der Reflexion in sich, mit Abstürzen und Sprüngen, mit voranstürzenden wie auch gemächlichen, ja ruhenden Abschnitten?“[ 19 ] Als ein Medium (= Mitte, Zwischen) ohne Sicherheit, hat das Wasser für den, der sich darauf einläßt, Wagnis-Charakter: „Wo aber die Beweglichkeit des Fließens und Verfließens als die natürliche Seinsform erschiene, da wäre sein Nomadisches und Fragmentarisches kein Mangel mehr.“[ 20 ] Es kommt heute immer mehr darauf an, in Gelassenheit[ 21 ] mit Unsicherheiten leben zu lernen, anstatt immer krampfhafter an einer Idee technisch herzustellender Sicherheit festzuhalten. „Wenn ich mich einem Fließen anheimgebe, verzichte ich auf Sicherheit und Halt.“[ 22 ] Unter dem Einfluß der Physik auf unsere lebensweltlichen Orientierungen haben wir uns daran gewöhnt, die Zeit selbst als Raum oder als vierte zum Raum hinzutretende Dimension zu deuten, das aber heißt, die Zeit als eine einzige wahrzunehmen. Guzzonis Reflexionen zum Wasser lehren uns, die Vieldimensionalität von Temporalität im fließenden Zwischen anzuerkennen. Weil für Guzzoni Wasser im Phänomenbereich des Zwischen fließend, auch regnend erscheint, ist es rein begrifflich nicht zu fassen,[ 23 ] aber es ist auch nicht einfach der leere oder abstrakte Zwischenraum oder gar der Hort des Irrationalen; vielmehr ist es ein „konkreter Geschehensraum“, ein Raum des Übergangs, der sich selbst in prägnanten Bildern darbietet.[ 24 ] Für ein abstrakt topologisches Denken wäre ein Zwischenraum nichts anderes als der Weg oder die Bahn zwischen zwei Raumstellen. Für ein solches Denken mag es durchaus Störungen im Zwischenraum geben, die zu Verzögerungen in der Zielerreichung oder der Unvollständigkeit des Ankommenden (Verluste durch Parasiten) führen mögen, aber niemals kann für ein solches Denken das Zwischen zu einem Aufenthalts- oder Verweilort, zu einem Lebensraum werden. Die Frage, die Guzzoni in ihrem früheren Buch bewegte, nämlich ob man im Wandern wohnen könne, transformiert sich hier in die Frage, ob man schwimmend leben kann. Die deutsche Redewendung des „ins Schwimmen kommen“ oder, den festen Boden unter den Füßen zu verlieren, indiziert den Verdacht, daß es nicht möglich sei, im Schwimmen zu leben. Daher baut man dann eine Arche, die auf Abbildungen meist aussieht wie ein Haus, das schwimmt, d.h. seinem eigentlichen Element der Gründung auf festem Boden, entrissen ist.[ 25 ]
Die Arche ist eine Archè,[ 26 ] eine Beherrschung von einem gründenden Ursprung her, ursprungsgarantierte Herrschaft. Das Wasser aber ist an-archisch. Es gibt kein Fundament ab, ist jeglichem Fundamentalismus, dem die Philosophie so lange huldigte, abhold. Die Verehrung des Sonnengottes (siehe Minotaurus) in der minoischen Kultur wich einer Verehrung Poseidons, nachdem ein Tsunami, ausgehend von der Santorin-Eruption, die Stätten der minoischen Kultur zerstört hatte.[ 27 ] Die Kreter entschlossen sich offenbar, mit der Kultur der bekannten Unsicherheit zu leben statt sich in bloß scheinbarer Sicherheit zu wiegen.
Aber kommt nicht das Wasser der Flüsse aus einer Quelle, also doch einer Archè? In der Schule haben wir den Kreislauf des Wassers lernen müssen: die Gewässer der Meere kämen aus den vielen Flüssen der Welt, die sie speisen. Diese aber haben alle je eine Quelle, das ist ihr Allgemeinbegriffsmerkmal: was ein Fluß sein will, hat eine Quelle zu haben, die ihm seine Identität verbürgt und ihm seinen Namen garantiert. Das haben wir in der Schule gelernt. Also zu Wiederholung: Wie viele Quellen hat der Rhein? Eine einzige, ist die richtige Antwort, und genau deswegen streitet man darum, welche der vielen Quellen des Rheins die einzige ist. Wie viele Quellen aber hat die Pader? Jedenfalls ungefähr 200 und keine unter diesen erhebt den Anspruch, die „wahre“ Quelle dieses kürzesten Flusses Deutschlands zu sein. Wie viel Willkür in der Festlegung der einen wahren Quelle liegt, zeigt auch die Entdeckungsgeschichte des Mississippi: die Willkürlichkeit der heutigen „wahren“ Quell-Identifikation im Lake Itasca, bzw. einem seiner Zuflüsse; erwähnenswert ist auch der gelehrte Streit um die „wahre“ Quelle des Nils.[ 28 ]
Wozu brauchen wir überhaupt die eine, die wahre Quelle? Das ist auch die Frage, die sich Jacques Derrida stellt. „Zuerst sind da die Quellen, die Quelle ist anders und Plural.“[ 29 ] Derrida macht geltend, daß Quelle nichts ist, das als reiner Ursprung gedacht werden kann, denn Quelle ist sie nur dadurch, daß ihr etwas folgt, so daß er davon sprechen kann, daß Quelle ein Resultat ist und eben nicht ein Ur-Sprung.[ 30 ] „Die Quelle selbst ist die Wirkung von dem, (als) dessen Ursprung (man) sie angibt. … Daß das Eigentliche nicht das Ursprüngliche ist, daß es nicht an der Quelle ist…“ Wenn sich aber für Derrida die unvermeidliche, quasi-plotinsche Frage ergibt, wie das Unmögliche möglich wird, nämlich „Wie kann die Quelle sich teilen…“[ 31 ], dann verweist er als erstes auf eine Doppeldeutigkeit in der französische Sprache: „point d’eau“ heißt sowohl die Wasserstelle, also die Quelle, als auch kein Wasser, also keine Quelle. Der Begriff der Quelle ist daher schon nicht das Einfache eines Ursprungs. Nicht einmal der Begriff des Einfachsten vermag es, ein einfacher Begriff zu sein. Die andere Spaltung ereignet sich als Spiegelung[ 32 ]: „Überall dort, wo der Spiegel ins Spiel kommt, kann die Quelle als Spiegeleffekt sich nur dadurch wiederfinden, daß sie sich zweimal verliert. Der Spiegel …offenbart hierbei diese einzigartige Operation der vervielfachenden Teilung, die den Ursprung in eine Wirkung und das Ganze in einen Teil verwandelt.“[ 33 ] Fazit: „… die Quelle ist immer geteilt…“[ 34 ] Auch Guzzoni widmet sich intensiv den Quellen. Für sie ist das Quellen, das Hervorquellen des Flüssigen aus der Oberfläche des Festen, ein Rätsel, das auf ein Geheimnis verweist. Denn es macht keinen Sinn, nach dem Ursprung der Quelle zu suchen, sozusagen nach der Quelle hinter der Quelle, die die phänomenale Quelle transphänomenal speiste. („Die Quelle als solche, das Hervorquellen selbst, ist rätselhaft und geheimnisvoll; sie birgt ein Geheimnis, und sie stellt ein Rätsel, das Rätsel ihrer Herkunft. Es ist unlösbar und lösbar zugleich. Unlösbar, weil es keinen Sinn macht, in seinen Ursprung ‚selbst‘ zurückzugehen … ein solches Zurück gibt es nicht … Vor der Quelle ist keine Quelle, so wie es kein Anfangen vor dem Anfang gibt.“[ 35 ]) Guzzoni spricht daher heideggerianisierend: „Die Quelle quillt.“[ 36 ]
Absolutes philosophisches Neuland betritt Guzzoni, wenn sie vom Wasser im Zwischen von Himmel und Erde spricht, d.h. vom Regen. Wie so mancher zitiert auch sie an dieser Stelle Verlaine: „Il pleure dans mon cœur, | Comme il pleut sur la ville.“[ 37 ] Der Landregen dient Guzzoni zur Erläuterung des Begriffs der Allgemeinheit bei Platon, Aristoteles und der ihnen folgenden philosophischen Tradition; denn „allgemein“ hat zunächst dort den Sinn von periechón, und das heißt umfassend auch im wörtlichen Sinne, später erst tritt dafür das kat‘ holou ein (wörtlich: über das Ganze hin), das dann die logische Subordination des Besonderen unter das Allgemeine meint und damit den Verweis auf die Vertikale, auf die Hierarchie und damit auf die Archè als Herrschaft annimmt. Im allgemeinen Regen, im alles umfassenden und einfassenden Landregen verschwimmen die festen Konturen des Einzelnen. Im Landregen und ebenso im Nebel bekommt das Medium, die Mitte zwischen Himmel und Erde eine Form[ 38 ], die Verbindung tritt in die Erscheinung.
Geben wir nun also Guzzoni ein letztes Mal das Wort: „Einsamkeit und Schweigen und Nebel versammeln das Denken auf sich selbst, weil der Raum um es herum nicht durch fremdes, ja zunächst durch überhaupt kein Sprechen, durch kein Begrenztes und Festes und Sicher-Gesichertes verstellt ist.“[ 39 ]