GRABBEAUMUSEUM IM NETZ  Gang rot »
Paul Mersmann

Das wenig bekannte Auge des Mondes




Ein wenig legendenhaft dunkel blieben bis vor kurzem Aufzeichnungen Harsdörffers über eine Art Jagdpartie des fränkischen Malerkreises der »Kunstjagenden Sollenpreller«. Da galoppieren auf seltsamen Schellenrädem, eben den Sollenprellern, Maler auf der Jagd nach Motiven durch Wald und Flur und kehren mit Skizzen und Federzeichnungen als aufgespießte Beute zurück. Gleichsam fahradfahrende Naturalisten der ersten Stunde, wie man sie erst Jahrhunderte später in Worpswede und Murnau wiederfinden kann.
Es ist die berühmte Augenjagd, die in den Zeiten mechanischer Hilfsmittel nach den Ordnungen der Bayerisch-Fränkischen Zünfte (Hauptstaatsarchiv München: Augsburg Reichsstadt Lit. Nr. 73), nicht ohne den zeitgenössischen Aufwand zahlreicher Rahmengestühle, Perspectivicamenti, Licht- und Schattenbäume auskommen konnte, sodass wohl ein ganzer Tross von Wagen und Pferden hinzu gedacht werden muss. Was lag näher, als dass man dergleichen Umzüge auch an andern Orten nachzuahmen begann. Für das prunkliebende Prag sind solche Jagdzüge der Augenlust mehrfach bezeugt.
Es ist allerdings schwer glaubhaft, wenn Wyrsching behauptet, die Sollenpreller seien »Sytz- und Trypräder« aus den Händen der kunstreichen Jesuitenwerkstätten um Athanasius Kircher gewesen, die man auf dem Nürnberger Markt feilgeboten hätte, denn es finden sich ja auch bei Leonardo da Vinci zahlreiche Fahrgestelle und Räderwerke, die Anregungen bieten konnten. Es liegt daher wohl nahe, dass wandernde Nürnberger Schmiede und Brillenmacher, die weit umher kamen, ganz selbständig solche Bewegungsinstrumente herstellen konnten.
Es ist aber leider bis heute keines dieser Fahrzeuge als Sollenpreller oder überhaupt als Vorläufer des Fahrrads entdeckt worden.
Zum Kunstverständigen Discurs, von der edlen Mahlerey, von Georg Philipp Harsdörffer
Nürnberg 1652

Versuch einer außerwissenschaftlichen Rezension

Erste Sendung
Zweite Sendung
Dritte Sendung
Vierte Sendung
Fünfte Sendung

Bildmotive:
Paul Mersmann, Villa Glücklich
Aufnahmen Doro Breger
Fries (1)

Paul Mersmann: Fries (2)
Befassen wir uns mit der 2003 als Autographische Auferstehung bisher nur wenigen deutschen Sammlern bekannt gewordene Schilderung Harsdörffers einer solchen Augenjagd. Ein Exemplar befindet sich in der Biblothek der vatikanischen Restaurierungswerkstätten des Maestro Borreti. Es wird auffällig, dass die Motive der Künstler in jener Zeit ganz andere waren, als man heute vermuten sollte. Über Gaze gespannte Schattenfänger, offenbar durchsichtige, nach gewissen Lichtgraden geordnete Hilfsmittel zur Beleuchtung einer »beseelten Landschaft«, der regio in tabula picta, wurden ausgiebig nach frühwissenschaftlichen Begriffen genutzt und etwa als »perspectivica naturalis, perspectivica mundi, campus mathematicus oder im Hinblick auf Eigenschaften der Farben oder der Malweisen, wie color satur, für stark aufgetragene Farben, oder color diluctior für verwaschene Farben und andere Begriffe antiken Ursprungs eine gewisse Rolle spielten. Auch fügte man kleine Malverse als »poetische Schleyfen« hinzu und befestigte sie an besonders verehrungswürdig erscheinende Baumgruppen, die als Wohnsitze von Dryaden erkannt wurden. Siehe: Waldspaziergang von Paulus Homomaris, Sammlung G. Jaeger. Sie galten als Malrufer, Malwinker, Malzeichen. Einen besonders wirkungsvollen Vers, der, da er nicht frei ist von einer ursprünglichen Einfalt, wohl unmittelbar am Ort entstanden sein könnte, hat Harsdörffer erwähnt und in seiner Autographischen Auferstehung mitgeteilt, er lautet: »Wo die Nymphen gerne weilen und die Nebensonnen schleichen, heben sich zwei gleiche Eichen. Ach sie rufen, ach sie werben, wollen den Dryaden sterben, wenn sich bald kein Maler fänd, der sie malt und aufgehängt«.
In diesen Zusammenhängen ist leicht einzusehen, dass nur die vollständig mystifizierte Landschaft durch derartige Vorbereitungen erlösungsfähig gemacht und alsdann gemalt werden konnte. »Zuvor mit Sprüchen und viel gelehrsames der Philosophey umstellt wird so das Kunstlycht in die Landschaft getragen, ohne welches der beste Maler nichts vermag«. Weiter heißt es: »Bey dem Wohlklang der Schellenräder gestalten sich die Gesöllen ihr Malzeug nach einkunft der benannten Bedingungen und beginnen die säuberen Pinseln einander vorweisend aus gemeinsamen Farbtöpfen ehrenhalber ohne Umstand zu molen«. Und weiter : »Do begann ein groß Zaubern das Waldgeviert zu erfillen. Eulen und Haubicht flogen hinzu und lehrten einige der noch wenig bekannten wie denn Gefieder, Schnäbeln und grelle Augen zu molen seyen, ohn das ein Vogel bekümmert sein dürfte, über Irrtum und wenig Fleyß seines Wesens wegen.«

Harsdörffer schildert dann im Verlauf seiner Schrift ein schlichtes Wechselgespräch zwischen zwei jungen Malern vor der belebten Natur, wie es vorgekommen sein mag.
So sagt ein gewisser Lupold mit grüner Kappe zu seinem Malgenossen Gießpert, ebenfalls mit grüner Kappe: »Ho, woher ist das große Auge des Vogel dir angekommen?«
Gießpert: »Aus der Spiegelung deines Ringes, den dir des Meisters Tochter geschenkt hat«.
Lupold: (betroffen) »Das hat dir der Vogel selber gesagt...« (Wirft aufgebracht seinen Pinsel nach einer Schleyereule.)
Gießpert: »Nun bist du ihn los.« (Er zieht großmütig einen eigenen Pinsel aus seinem Besteck und reicht ihn Lupold.)
Lupold (misstrauisch): »Geweiht ... bei St. Lucas?«
Gießpert: »Das gerade nicht, aber von Meister Hegenbart, der ist Lutherisch.«
Lupold: »Den nehm ich nicht an.« (Zieht einen krummen und abgewetzten aus seiner Tasche.) »Lieber gerecht und krumm als glatt und römisch.«
Gießpert: »Beleidige nicht die Dryaden, die wollen gut vermalt sein in ihren Baumstämmen.«
Lupold: »Siehst du welche?«
Gießpert: »Du stehst grad vor einer.«
Lupold (reibt sich die Augen).
Gießpert (reicht ihm noch einmal den Pinsel): »Da nimm, dann siehst du sie.«
Lupold: »Den hellen Streifen da seh ich wohl, wo eine Birke sich ihre Füße an einer Eiche vertritt. Ist das ein Dryadenweib?«
Gießpert: »Im sechzehnten Schatten nach unserem Meister, da beim unteren Grau absalomischer Quintessenz, wo es im Zeichenbuch heißt: ›Sieh nicht das doppelte vor dem geraden, Simplifex hätt sonst Stroh dir geladen.‹«
Lupold: »Du kennst dich aus.«
Gießpert: »Mach eine Verbeugung und fang an mit dem guten Geisterblau.«
Lupold (verbeugt sich unsicher, rückt seine Feldstaffelei zurecht und beginnt zu malen.)
Gießpert (leise): »Erst das Geflecht, dann das Gesteck, den Zopf als Zweig, die Holzfrucht ganz leicht mit Grün überstreich.« (Klappt Hardörffers Lehrbuch zu, daraus er heimlich dem Lupold vorgelesen hat.)
Im weiteren Verlauf des Textes beschreibt Harsdörffer die Skizzen der beiden blattreich verhüllten Frauen, die, noch fest in eingezeichnete Linien gebannt, »kunstreych« eingezwängt, auf den Holztafeln der beiden Maler entstanden sind. Die Umrisse und Untermalungen werden als Ausdruck sylvanischer Theorien erklärt, darauf die »Täuschefarben« erst später nach der Rückkehr in die Werkstatt aufgetragen werden, etwa »aus Gefälligkeit für den Auftraggeber«, oder »nach Gelüst« oder »anderer geistlicher Gegenwart«. Es kann jetzt offenbar durch falsche oder rein ästhetische Ansprüche nicht mehr viel schief gehen, da die poetischen Fundamente, »ohn Täuschung«, bereits im Wald gelegt worden sind.
Paul Mersmann: Fries (3)

Paul Mersmann: Fries (4)
Die Anzahl der genannten Blätter, des »Blattzeugs der Baumweiber«, beläuft sich in beiden Fällen auf je 120 Eichenblätter, durchmischt mit Blättern der Fuchsreben und des Leichbaums. Harsdörffer sieht in dieser auffallenden Übereinstimmung von je 250 Blättern auf beiden Tafeln aber nichts Verwunderliches, sondern schlicht die Folgen objektiver Malregeln nach den mitgebrachten Deutungsmustern seiner »zünftlichen Augenjagdt in gelehrsamer accuratesse.«
Das alles bedeutet, wie sehr bei Harsdörffer auch viele Ausschweifungen des Denkens durch die neuen Kunsttheorien eine Insel der Freiheit gefunden hatten, von der aus die Strahlen gefärbten Geistes, förmlich als Morgenrot, in Farben und Pinsel gelangen konnten. Solche kühnen Gedankenfahrten zu irregulären Inseln der Malerei, vergleichbar denen der potugiesischen Flotte auf neuen Meeren, wurden zum Ursprung von Stimmungen und Blickwinkeln für ein neues heiliges römisches Reich gemalter Natur. Durch solche Botschaften Harsdörffers, besonders in seinen letzten bekannt gewordenen Schriften, entstand die heute vergessene, von manchen Kunstwissenschaftlern um Emile Verhaeren oder Leo von Löwenstein-Haller als reichs-metaphysische Zuströmungen durch Nürnbergs Malerei bezeichnete Einflussnahme der deutschen Kunst auf die europäische Kunst. Sie galt als vollständige Überwindung der Gotik. (Luther selbst habe sich ja schließlich nicht ohne gute Gründe bei Lautenmusik selber zu malen versucht.) Sie hätte den damals noch ahnungsvoll erhaltenen, christlich-theologischen Weltgewissheitsgedanken durch eine neue pantheistische Freiheit ins Wanken gebracht und sei hierin sogar der deutschen Romantik verwandt.
Wenn dergleichen Töne Löwenstein-Haller später auch verwirft, so ziehen sie sich doch noch immer durch sämtliche Reichsbegriffe der Malerei, wenn sich beispielsweise auf Egon Elberfelds Düsseldorfer Trümmergemälden der sechziger Jahre dutzende Stahlhelme, Kanonen und Panzerwagen finden. Er soll sie unter Aufnahmen von Kriegslärm, Maschinengewehrfeuer und krepierenden Bomben gemalt haben.

Die an dieser Stelle versuchsweise geschilderte Kunst in deutschen Wäldern reicht zurück bis in Geistergebiete sehr früher Zeiten. Man ahnt sie in den Höhlen der Steinzeit und findet sie noch in den hochgelobten Naturnachahmungen des bei Harsdörffer häufig erwähnten Apelles, der die Vögel zu täuschen vermochte. Der Naturbegriff war in all seinen schöpferischen Geheimnissen viel reicher angelegt als etwa im Impressionismus, der, wie Oscar Wilde sehr treffend bemerkt hat, nur um die Retina gesucht hat. Ein kostbares Netz von ausufernden »Untermalungen«, die übrigens mehr bedeutet haben, als man heute darunter versteht, verknüpfte die in den Wäldern empfangenen Bildideen mit den Gesetzen der Perspektive, die hier keineswegs allein der Architektur angehörten, sondern der Bannung aller gleichsam wie Mücken und Käfer mitgeschleppten Naturmächte galten, davon Begriffe wie Fluchtpunkt, Anfallswinkel, Lauflinie, Zugwinkel hinreichend Zeugnis geben. Harsdöffers Bemerkung »Nichts erlöst den Maler leichter aus allen Fängen der Malerplagen, als die Perspectivica, ohne die ja früher so oft die unwissenden Maler von boshaften Dämonen gegen das Malbrett oder in Kirchen gar von den Gerüsten geworfen wurden« bezeugt, auf wie magische Weise die Linien der Perspektive einer damals noch reicheren Aufklärung angehört haben.

Fortsetzung
Paul Mersmann: Fries (5)