1. Das Problem des Übergangs in Kants Spätphilosophie
Eines der Hauptprobleme in Kants Spätphilosophie ist das Problem der Übergänge. Die genaue Topologie des Übergangs beschreibt Kant in einem nachgelassenen fragmentarischen Entwurf zu der Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik. Dort heißt es: "Die Transcendentalphilosophie, d. i. die Lehre von der Möglichkeit aller Erkenntniß a priori überhaupt, welche die Kritik der reinen Vernunft ist, von der itzt die Elemente vollständig dargelegt worden, hat zu ihrem Zweck die Gründung einer Metaphysik, deren Zweck wiederum, als Endzweck der reinen Vernunft, dieser ihre Erweiterung von der Grenze des Sinnlichen zum Felde des Übersinnlichen beabsichtiget, welches ein Überschritt ist, der, damit er nicht ein gefährlicher Sprung sei, indessen daß er doch auch nicht ein continuirlicher Fortgang in derselben Ordnung der Principien ist, eine den Fortschritt hemmende Bedenklichkeit an der Grenze beider Gebiete nothwendig macht. Hieraus folgt die Eintheilung der Stadien der reinen Vernunft, in die Wissenschaftslehre, als einen sichern Fortschritt, - die Zweifellehre, als einen Stillestand, - und die Weisheitslehre als einen Überschritt zum Endzweck der Metaphysik ..."[ 1 ] Es gibt also Grenzen, die dadurch definiert sind, daß ein "kontinuierlicher Fortgang" über sie nicht möglich ist, hier die Grenze zwischen dem Sinnlichen und dem Übersinnlichen. Diese Grenze kann nicht im "kontinuierlichen Fortgang in derselben Ordnung der Prinzipien" überschritten werden, d. h. es handelt sich um einen radikalen Übergang, und zwar weil im Feld des Sinnlichen und des Übersinnlichen verschiedene Ordnungsprinzipien gelten. Diese Grenze nun einfach zu überspringen, könnte, so sagt der alte Kant, gefährlich sein. Worin die Gefahr eines Sprungs über die Grenze bestünde, sagt er nicht. Was in anderen Übergangs-Theorien als räumliche Ausdehnung der Grenzmarken erscheint, wird bei Kant zur zeitlichen Dehnung in der "Bedenklichkeit an der Grenze": der "Fortschritt", d.h. das Fort-Schreiten über die Grenze hinweg, muß also erst einmal gehemmt und verzögert werden. Die Hemmung des gedankenlosen Übergangs vom Sinnlichen zum Übersinnlichen ist das eigentliche Geschäft der "Kritik". Genau dadurch erzeugt aber die Kritik erst eigentlich das Problem eines Übergangs. Da nun Kant nicht nur die unberechtigten Ansprüche der Vernunft abweisen will, sondern zugleich Metaphysik als Wissenschaft neu gründen möchte, muß er auch das Übergangsproblem lösen. In der Bewegung führt diese Dehnung zum "Stillestand", der den "Überschritt" vorbereitet. Der Begriff "Überschritt" kontrastiert hier ganz deutlich zu demjenigen des "Fortschritts". Wo ein Fortschritt nicht möglich ist, weil eine Grenze die Geltung verschiedener Prinzipien markiert, dort ist nach einem Stillstand in Bedenklichkeit ein Überschritt angezeigt, nicht aber ein gefährlicher Sprung.[ 2 ] Drei Bewegungsformen also imaginiert Kant hier: 1) (sicherer) "Fortschritt", solange man in einem Terrain bleibt, 2) reflektierender Stillstand an der Grenze zur Vermeidung eines Sprungs, 3) Überschritt.
Die hier in aller Schärfe formulierte Problematik des Übergangs ist im Werk Kants jedoch allgegenwärtig. Nachdem er zwischen der Unerweisbarkeit der Freiheit in der "Kritik der reinen Vernunft" und der Freiheit als Grundbegriff der praktischen Philosophie eine anscheinend unüberbrückbare Kluft aufgerissen hatte,[ 3 ] die auch die Einwirkung sittlich orientierten Handelns in die empirisch unter Kausalgesetzen stehende Welt als fragwürdig erscheinen lassen mußte, von deren Möglichkeit jedoch für die praktische Philosophie so unendlich viel abhing, sollte es die "Kritik der Urteilskraft" leisten, diese Kluft zu schließen: "Das Gebiet des Naturbegriffs unter der einen und das des Freiheitsbegriffs unter der anderen Gesetzgebung sind gegen allen wechselseitigen Einfluß, den sie für sich (ein jedes nach seinen Grundgesetzen) auf einander haben könnten, durch die große Kluft, welche das Übersinnliche von den Erscheinungen trennt, gänzlich abgesondert. Der Freiheitsbegriff bestimmt nichts in Ansehung der theoretischen Erkenntniß der Natur; der Naturbegriff eben sowohl nichts in Ansehung der praktischen Gesetze der Freiheit: und es ist in sofern nicht möglich, eine Brücke von einem Gebiete zu dem andern hinüberzuschlagen."[ 4 ] Doch: "Ob nun zwar eine unübersehbare Kluft zwischen dem Gebiete des Naturbegriffs, als dem Sinnlichen, und dem Gebiete des Freiheitsbegriffs, als dem Übersinnlichen, befestigt ist, so daß von dem ersteren zum anderen (also vermittelst des theoretischen Gebrauchs der Vernunft) kein Übergang möglich ist, gleich als ob es so viel verschiedene Welten wären, deren erste auf die zweite keinen Einfluß haben kann: so soll doch diese auf jene einen Einfluß haben, nämlich der Freiheitsbegriff soll den durch seine Gesetze aufgegebenen Zweck in der Sinnenwelt wirklich machen..."[ 5 ] Der gesuchte Übergang kann weder direkt vom Sinnlichen zum Übersinnlichen oder umgekehrt vollzogen werden, weil sonst die Bedingungen der einen Sphäre auf die andere einfach übertragen würden, noch kann der Übergangsbereich als eine eigene Sphäre gekennzeichnet sein.[ 6 ] Der Übergang ist operativ im Zwischen, nicht aber lokalisierbar als ein dritter Ort in den Reichen des Wissens und Handelns. Das Problem stellt sich aber auch innerhalb der jeweiligen Bereiche; in der KrV ist es das Schematismus-Kapitel, das Kant am Ende seines Lebens als "einen der schwierigsten Punkte" erklärte und das entsprechende Kapitel für "eines der wichtigsten". Bei Kant selbst findet sich die zunächst lapidar erscheinende Formel, ein Schema sei "ein allgemeines Verfahren der Einbildungskraft, einem Begriff sein Bild zu verschaffen...".[ 7 ] Hier ist es das Problem des Übergangs von Bild und Begriff, das im Schema - ja, sollen wir sagen: - auf den Begriff gebracht worden sein soll. Daher muß das Schema weder rein intellektuell noch rein sinnlich sein, sondern als ein Vermittelndes ein Drittes zwischen Sinnlichkeit und Verstand bereithalten. Die Einbildungskraft bringt "das Mannigfaltige der Anschauung in ein Bild".[ 8 ] Dadurch begründet sich eine im Unterschied zur diskursiven Erkenntnis symbolische oder figürliche.[ 9 ] "Der Inhalt des Wortes ist das Bild."[ 10 ] Aber bereits in der Darstellungsweise des Problems überlebt es als Problem der Darstellung. Christine Pries interpretiert: "Der Übergang ist keine materiale Brücke über den Abgrund, sondern ein Perspektivenwechsel (und zwar nur) im Bewußtsein dieses Abgrunds [sc. zwischen dem Sinnlichen und Übersinnlichen, Verf.]."[ 11 ] Ja, selbst der Metapher der Brücke mißtraut Kant dann, wenn sie bedeuten soll; "denn am jenseitigen Ufer kann man mit keinen Materialien der Sinnesvorstellung bauen", sagt er in seiner Kritik an Eberhard.[ 12 ] In seiner Neubegründung einer Metaphysik der Natur hat sich Kant dagegen sehr intensiv um eine Wissenschaft vom Übergang bemüht, ja das "Opus postumum" kann insgesamt interpretiert werden als der Versuch eine solche Wissenschaft des Übergangs zu entwerfen.[ 13 ]
Das Problem der Übergänge hat Kant nicht tatsächlich zu lösen
vermocht, es bleibt als Stachel seines Denkens erhalten, ja nimmt
an Schärfe und Dringlichkeit im Spätwerk zu. Im folgenden soll auf
ein noch weitgehend unbemerktes Vermittlungsproblem und seine
Thematisierung in der Spätphilosophie Kants eingegangen
werden.
2. Die Verbindung von Sittlichkeit und
Wohlleben / zum Anfang
[ 1 ] FM, AA 29: 272f.; die
Wichtigkeit der Themas der Übergänge für die Kantische Philosophie
allgemein, für das Opus postumum insbesondere betont Lehmann,
Gerhard: "Das philosophische Grundproblem in Kants Nachlaßwerk".
In: ders.: Beiträge zur Geschichte und Interpretation der
Philosophie Kants. Berlin. 1969, 272-288, dort auch ein Hinweis auf
Graf Keyserling, Eduard: Das Gefüge der Welt. 3. Aufl. Darmstadt.
1920, 18; ferner Kopper, Joachim: "Kants Lehre vom Übergang als die
Vollendung des Selbstbewußtseins der Transzendentalphilosophie".
In: Kant-Studien 55 (1964), 37-68 u. Förster, Eckart: "Die Idee des
Übergangs". In: Forum f. Philosophie Bad Homburg (Hrsg.): Übergang.
Frankfurt a. M. 1991, 28-48.
[ 2 ] Zur Verantwortungslosigkeit eines
Sprungs als Übergangsform s. auch KrV B 869, ferner B 687.
[ 3 ] Das Fehlen einer "Brücke" über diesen
Abgrund motiviert z. B. auch die Kritik des physikotheologischen
Gottesbeweises in der Transzendentalen Dialektik, KrV B 649; aller
erkennende "Übergang" sei in der sinnlichen Erfahrung gegründet und
daher ungeeignet, die Brücke zum Übersinnlichen zu schlagen. Die
Theorieangebote der klassischen Metaphysik vergleicht er daher mit
dem aussichtslosen Vorhaben desjenigen, "welcher die Brücke längs
dem Strome statt quer über denselben, zu schlagen meinte..." (AA
08: 247)
[ 4 ] KU, AA 5: 195.
[ 5 ] KU, AA 5: 175f.
[ 6 ] S. dazu Pries, Christine: Übergänge ohne
Brücken. Berlin. 1995, 76ff.
[ 7 ] KrV B 179f..
[ 8 ] KrV A 120.
[ 9 ] So Dietzsch, Steffen: "Schema &
Bild". In: Perspektive in Literatur und bildender Kunst, hrsg. v.
Röttgers, Kurt u. Schmitz-Emans, Monika. Essen 1999, 166-173, hier
171.
[ 10 ] Nyíri, Kristóf: Vernetztes Wissen.
Wien 2004, 168.
[ 11 ] Pries, a. a. O. 177.
[ 12 ] AA 08: 213.
[ 13 ] S. Terra, Ricardo R.: "La politique
comme "Übergang" chez Kant". In: Concordia 24 (1993), 49-57; Terra
verweist darauf, daß sich von einer Reinen Rechtslehre einer
Metaphysik der Sitten zum positiven Recht ein ähnliches
Übergangsproblem ergibt, dieses ebenfalls von Kant im Opus postumum
thematisiert.