Ulrich Schödlbauer
Wölbings Belustigungen
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Routine
Desintegration
Flugtraum
Breitwand
Nebelaufgang
Dunkle Sonne


Jürgen Wölbing

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Routine. - Niemandem steht es frei, isolierte Effekte ad infinitum zu steigern. Irgendwann haben sie das Maximum der Amplitude erreicht und nähern sich erneut der alltäglichen Gemengelage an. Was für alle Aufbrüche gilt, das gilt auch für die Art von Aufmerksamkeit, die darauf trainiert ist, Aufbrüche wahrzunehmen. Für den professionellen Beobachter, gewohnt, Weite und Grad der Abweichung zu bestimmen, sobald ein neuer Athlet in der Kunstszene seinen Wurf präsentiert (stark? ›unglaublich‹ stark?), ist alles Routine. Während der Automat in ihm das ›Ereignis‹ registriert, zeigt sich sein Blick anderweitig beschäftigt - von der Schuhmarke des Adepten bis zum Augenaufschlag im unvermeidlichen Medienplausch hinterher. Der Wurf, heißt das, verliert an Bedeutung, er hat sie bereits verloren, sobald die Szene sich angewöhnt hat, in Würfen zu denken, sie als unabdingbar voraussetzt. Denn einmal vorausgesetzt sind sie das immer Vorausgesetzte, der konventionelle Anlass, um sich über alles Mögliche auszutauschen. Wer den Kick hat und wer nicht, das wird nicht entschieden, das ist entschieden - in jener mythischen Vorzeit, in der die Wahrnehmung umsprang. Das Publikum hat keine Schwierigkeiten zu folgen, im Gegenteil, es reagiert erleichtert, dass ihm die Mühen des Urteils erspart bleiben, dass es nicken darf, ohne zu wissen, worum es geht, aber mit dem sicheren Instinkt, dass es um nichts anderes geht als darum, es zu hofieren. Gönnerhaft im Exzess, lässt es die Scheine knistern, die den Trubel in Gang halten.

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Desintegration. - Hat einer erst verstanden, dass nicht der Wurf zählt, sondern das, was danach geschieht, dann begreift er auch, dass es darauf ankommt, spielerisch, ohne übermäßigen Kraftaufwand, über den Punkt hinweg zu gleiten, an dem die meisten scheitern. Das professionelle Mittel zu diesem Zweck heißt Desintegration. In einer Malerei, in der alles ein bisschen an alles erinnert, erzielt die Vergröberung eines beliebigen Elements das Mehr an Bedeutung, in dem Exponat und Exponierender mühelos zueinander finden. Das Ergebnis ist ein Modernismus aus zweiter Hand, der sich auf die Produktion von Normen verlegt hat, eine Kunst, deren Macher das Alphabet täglich neu auf den Markt werfen, weil sie im Stammeln der aufs Analphabetentum zurückgeworfenen Sensiblen den Zuspruch vernehmen, den sie in Lebensstil umzusetzen gedenken. Format ist wählbar, eine Überzeugung, welche die obligaten Museumsgrößen mit dem ringenden Ungefähr eint, dessen aparte Darbietungsform die Häppchenkultur der Vernissagen darstellt. Widerstand wäre zwecklos.

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Berichtigungen /3 Flugtraum. - Die erblätterte Welt ist die zerlesene. Die Zeichnung entsteht aus der Textur der Zerlesenheit, aus Rissen und Sprüngen, die von den Rändern her die Fläche erobern. Das Verfahren lässt keine leeren Flächen zu; es zielt auf Wirkungen, die plastisch und abstrakt sind. Fast - monochrome Geflechte, winzige Striche von wechselnder Dichte bedecken den Bildraum, Ligaturen, Serifen. Flimmerhärchen. Konzentrisch, vielleicht, auch sie. Aber nicht der leeren Mitte, sondern der verfehlten gilt die Bewegung; ein Zufallswurf führt sie ins Ziel. Die leere Mitte ist immer die ausgesparte, randvoll mit Absichten, überdeutlich. Erst die verfehlte Mitte wird aller Absicht ledig; sie ertrinkt in ihr. Auch ist sie nicht länger der Mittelpunkt, sondern seine Preisgabe. Die zeichnerische Technik schafft dezentrale Zentren und vernetzt sie; darin folgt sie der Logik komplexer Systeme, ob bewusstlos oder bewusst, tut nichts zur Sache.

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Berichtigungen /4 Breitwand. - Vorausgesetzt, der Betrachter bringt die Zeit auf, die nötig ist, um weniger zu sehen statt mehr - also zu sehen -, so erwartet ihn ein Wechselspiel von Schicht und Distanz. Stutzig geworden, gleitet der Blick nicht länger in eine stetig sich aufschließende Tiefe, sondern springt von Schicht zu Schicht, von Zeichenebene zu Zeichenebene. Der Trick - falls er so genannt werden darf -: Auch der zweite, der Machart geltende Blick findet sich zwischen Objekten. Wie der erste lässt er sich narren - wovon? Von einer fiktiven Welt aus verwitterten Blöcken, in der sich der Illusionscharakter der ersten spiegelt. Zwei Raumillusionen setzen einander zu, so dass der Betrachter abwechselnd in der einen und in der anderen verharrt. Zwei Vollzugsinstanzen, die sich gegenseitig überführen und dingfest machen, statt sich ineinanderzuschmiegen, wie das in den Kippbildern Eschers geschieht. Das Thema lautet nicht Die Geometrie und die Unzucht des Blicks, sondern Sieh dich nicht um. Es ist schon geschehen.

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Berichtigungen /5 Nebelaufgang. - Die Perspektive - ein Fast-Nichts, das den Betrachter fordert, ohne dass es verriete wozu. Kopfschüttelnd beugt er sich über Lineamente, beseelt von der mit Zweifeln unterfütterten Hoffnung, es könne ihm einmal gelingen, sie zu entziffern. Aber während er fortliest - oder doch fortlesen möchte -, verirrt er sich in eine Tiefe diesseits der Landschaft, die sie ausspannt und wieder eng macht wie ein Jo-Jo, das in die Hand zurückläuft, von der es geschleudert wurde. Das Stocken des Lesenden gibt dem Raum Gelegenheit, sich für die Dehnung eines Augenblicks zu entfalten. Ein Wimpernschlag löscht das Bild und stellt es her. Und so Schlag auf Schlag, in jener unerbittlich reproduzierten Balance, die es dir nicht erlaubt, bei den Wundern der Technik zu verweilen oder dich dem naiven Sehen hinzugeben. Gemalte Malerei; was Kunst zuwegebringt, hier ist es ausgestellt und auf den Nenner einer Wahrnehmung gebracht, die durch die Nähe zur Lektüre deformiert wird und aufgrund ihres nicht auszuräumenden Unvermögens, zu lesen, was dasteht, die Elemente einer Oberfläche sammelt, die jenseits der Bildfläche beginnt und sich entweichend realisiert.

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Dunkle Sonne. - Das Gesehene ist nicht das Gemeinte, das Gemeinte etwas, mit dem sich das Sehen hintergeht. Das Sehen - eine vage In­stanz, stets bereit, sich in Betrachtungen zu verlieren - kommt hinterdrein, eine Angewohnheit, die in die Irre führt, die unvermeidliche Irre, da alles aufs Sehen angelegt ist und nichts weiter. Ein Aspekt, unbegehbar, den ein zweiter ergänzt, nicht weniger deutlich, nicht weniger ungreifbar, ein dritter, ein vierter. Der Druck, der die verschiedenen Schichten mit Hilfe der Farbe trennt und zusammenführt, ist eine Abbreviatur, die den Sehgewohnheiten des Betrachters entgegenkommt, eine Arabeske, die der wirklichen Arbeit nichts mehr hinzufügt. Fast nichts, denn die Farbe, die das erzeichnete, aber noch ganz dem Denken eingesenkte Bild den auswärtigen Blicken freigibt, stimuliert das driftende Sehen, das sich nicht festlegen kann und schon nicht mehr mag. Warum sollte es auch? Weniges belegt die unerschütterliche Banalität des ästhetischen Diskurses eindringlicher als die nicht aus der Welt zu schaffende Überzeugung, das Entscheidende der Kunst - ihre ›Wahrheit‹ - liege weder im technischen noch im dargestellten Detail, sondern in einem unbestimmbaren Dazwischen, das, so rätselhaft wie unergründlich - gleichsam das zum Weltgrund geronnene Lächeln der Gioconda -, nichts anderes bezeuge als ›Präsenz‹. Die Kunstfrömmigkeit vergisst, dass Technik und Referenz keine ›Faktoren‹ sind, zu denen sich gleiche (und gleichartige) Distanz herstellen ließe. Zweideutig ist die Technik selbst, von Anfang an. Was wir ›Welt‹ nennen, existiert nur durch sie - nicht das Draußen, sondern der Splitter, der unsere Weltvorstellung komplettiert und sich tatsächlich malen lässt, in Farben ebenso wie in Schriftzeichen oder Tönen. Darin kommt keine besondere Gunst zum Tragen, allenfalls die einer guten Stunde und einer Flasche Rotwein. Die Anmaßungen einer technikbesoffenen Kunst, einer Kunst, die nichts anderes vorzeigt als Technik, dies aber mit jener Penetranz des Pseudo- und Halbwissens, mit der man Schulen begründet und Kunstrichtungen inauguriert, sind immer im Unrecht - alle Versuche, die Technik einzudämmen, auch.

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