Ulrich Schödlbauer
Wölbings Belustigungen 2
Routine
Desintegration Flugtraum Breitwand Nebelaufgang Dunkle Sonne ← Ulrich Schödlbauer nach rechts scrollen |
Routine.
- Niemandem steht es frei, isolierte Effekte ad infinitum zu steigern.
Irgendwann haben sie das Maximum der Amplitude erreicht und nähern
sich erneut der alltäglichen Gemengelage an. Was für alle
Aufbrüche gilt, das gilt auch für die Art von Aufmerksamkeit,
die darauf trainiert ist, Aufbrüche wahrzunehmen. Für den
professionellen Beobachter, gewohnt, Weite und Grad der Abweichung zu
bestimmen, sobald ein neuer Athlet in der Kunstszene seinen Wurf
präsentiert (stark? ›unglaublich‹ stark?), ist alles
Routine. Während der Automat in ihm das ›Ereignis‹
registriert, zeigt sich sein Blick anderweitig beschäftigt - von
der Schuhmarke des Adepten bis zum Augenaufschlag im unvermeidlichen
Medienplausch hinterher. Der Wurf, heißt das, verliert an
Bedeutung, er hat sie bereits verloren, sobald die Szene sich
angewöhnt hat, in Würfen zu denken, sie als unabdingbar
voraussetzt. Denn einmal vorausgesetzt sind sie das immer
Vorausgesetzte, der konventionelle Anlass, um sich über alles
Mögliche auszutauschen. Wer den Kick hat und wer nicht, das wird
nicht entschieden, das ist entschieden - in jener mythischen Vorzeit,
in der die Wahrnehmung umsprang. Das Publikum hat keine Schwierigkeiten
zu folgen, im Gegenteil, es reagiert erleichtert, dass ihm die
Mühen des Urteils erspart bleiben, dass es nicken darf, ohne zu
wissen, worum es geht, aber mit dem sicheren Instinkt, dass es um
nichts anderes geht als darum, es zu hofieren. Gönnerhaft im
Exzess, lässt es die Scheine knistern, die den Trubel in Gang
halten. /7 |
Desintegration. - Hat einer erst verstanden, dass nicht der Wurf zählt,
sondern das, was danach geschieht, dann begreift er auch,
dass es darauf ankommt, spielerisch, ohne übermäßigen
Kraftaufwand, über den Punkt hinweg zu gleiten, an dem
die meisten scheitern. Das professionelle Mittel zu diesem
Zweck heißt Desintegration. In einer Malerei, in der
alles ein bisschen an alles erinnert, erzielt die Vergröberung
eines beliebigen Elements das Mehr an Bedeutung, in dem Exponat
und Exponierender mühelos zueinander finden. Das Ergebnis
ist ein Modernismus aus zweiter Hand, der sich auf die Produktion
von Normen verlegt hat, eine Kunst, deren Macher das Alphabet
täglich neu auf den Markt werfen, weil sie im Stammeln
der aufs Analphabetentum zurückgeworfenen Sensiblen den
Zuspruch vernehmen, den sie in Lebensstil umzusetzen gedenken.
Format ist wählbar, eine Überzeugung, welche die
obligaten Museumsgrößen mit dem ringenden Ungefähr
eint, dessen aparte Darbietungsform die Häppchenkultur
der Vernissagen darstellt. Widerstand wäre zwecklos. /8 |
Flugtraum.
- Die erblätterte Welt ist die zerlesene. Die Zeichnung entsteht
aus der Textur der Zerlesenheit, aus Rissen und Sprüngen, die von
den Rändern her die Fläche erobern. Das Verfahren lässt
keine leeren Flächen zu; es zielt auf Wirkungen, die plastisch und
abstrakt sind. Fast - monochrome Geflechte, winzige Striche von
wechselnder Dichte bedecken den Bildraum, Ligaturen, Serifen.
Flimmerhärchen. Konzentrisch, vielleicht, auch sie. Aber nicht der
leeren Mitte, sondern der verfehlten gilt die Bewegung; ein Zufallswurf
führt sie ins Ziel. Die leere Mitte ist immer die ausgesparte,
randvoll mit Absichten, überdeutlich. Erst die verfehlte Mitte
wird aller Absicht ledig; sie ertrinkt in ihr. Auch ist sie nicht
länger der Mittelpunkt, sondern seine Preisgabe. Die zeichnerische
Technik schafft dezentrale Zentren und vernetzt sie; darin folgt sie
der Logik komplexer Systeme, ob bewusstlos oder bewusst, tut nichts zur
Sache. /9 |
Breitwand.
- Vorausgesetzt, der Betrachter bringt die Zeit auf, die nötig
ist, um weniger zu sehen statt mehr - also zu sehen -, so erwartet ihn
ein Wechselspiel von Schicht und Distanz. Stutzig geworden, gleitet der
Blick nicht länger in eine stetig sich aufschließende Tiefe,
sondern springt von Schicht zu Schicht, von Zeichenebene zu
Zeichenebene. Der Trick - falls er so genannt werden darf -: Auch der
zweite, der Machart geltende Blick findet sich zwischen Objekten. Wie
der erste lässt er sich narren - wovon? Von einer fiktiven Welt
aus verwitterten Blöcken, in der sich der Illusionscharakter der
ersten spiegelt. Zwei Raumillusionen setzen einander zu, so dass der
Betrachter abwechselnd in der einen und in der anderen verharrt. Zwei
Vollzugsinstanzen, die sich gegenseitig überführen und
dingfest machen, statt sich ineinanderzuschmiegen, wie das in den
Kippbildern Eschers geschieht. Das Thema lautet nicht Die Geometrie und
die Unzucht des Blicks, sondern Sieh dich nicht um. Es ist schon
geschehen. /10 |
Nebelaufgang.
- Die Perspektive - ein Fast-Nichts, das den Betrachter fordert, ohne
dass es verriete wozu. Kopfschüttelnd beugt er sich über
Lineamente, beseelt von der mit Zweifeln unterfütterten Hoffnung,
es könne ihm einmal gelingen, sie zu entziffern. Aber während
er fortliest - oder doch fortlesen möchte -, verirrt er sich in
eine Tiefe diesseits der Landschaft, die sie ausspannt und wieder eng
macht wie ein Jo-Jo, das in die Hand zurückläuft, von der es
geschleudert wurde. Das Stocken des Lesenden gibt dem Raum Gelegenheit,
sich für die Dehnung eines Augenblicks zu entfalten. Ein
Wimpernschlag löscht das Bild und stellt es her. Und so Schlag auf
Schlag, in jener unerbittlich reproduzierten Balance, die es dir nicht
erlaubt, bei den Wundern der Technik zu verweilen oder dich dem naiven
Sehen hinzugeben. Gemalte Malerei; was Kunst zuwegebringt, hier ist es
ausgestellt und auf den Nenner einer Wahrnehmung gebracht, die durch
die Nähe zur Lektüre deformiert wird und aufgrund ihres nicht
auszuräumenden Unvermögens, zu lesen, was dasteht, die
Elemente einer Oberfläche sammelt, die jenseits der
Bildfläche beginnt und sich entweichend realisiert. /11 |
Dunkle Sonne.
- Das Gesehene ist nicht das Gemeinte, das Gemeinte etwas, mit dem sich
das Sehen hintergeht. Das Sehen - eine vage Instanz, stets bereit,
sich in Betrachtungen zu verlieren - kommt hinterdrein, eine
Angewohnheit, die in die Irre führt, die unvermeidliche Irre, da
alles aufs Sehen angelegt ist und nichts weiter. Ein Aspekt,
unbegehbar, den ein zweiter ergänzt, nicht weniger deutlich, nicht
weniger ungreifbar, ein dritter, ein vierter. Der Druck, der die
verschiedenen Schichten mit Hilfe der Farbe trennt und
zusammenführt, ist eine Abbreviatur, die den Sehgewohnheiten des
Betrachters entgegenkommt, eine Arabeske, die der wirklichen Arbeit
nichts mehr hinzufügt. Fast nichts, denn die Farbe, die das
erzeichnete, aber noch ganz dem Denken eingesenkte Bild den
auswärtigen Blicken freigibt, stimuliert das driftende Sehen, das
sich nicht festlegen kann und schon nicht mehr mag. Warum sollte es
auch? Weniges belegt die unerschütterliche Banalität des
ästhetischen Diskurses eindringlicher als die nicht aus der Welt
zu schaffende Überzeugung, das Entscheidende der Kunst - ihre
›Wahrheit‹ - liege weder im technischen noch im
dargestellten Detail, sondern in einem unbestimmbaren Dazwischen, das,
so rätselhaft wie unergründlich - gleichsam das zum Weltgrund
geronnene Lächeln der Gioconda -, nichts anderes bezeuge als
›Präsenz‹. Die Kunstfrömmigkeit vergisst, dass
Technik und Referenz keine ›Faktoren‹ sind, zu denen sich
gleiche (und gleichartige) Distanz herstellen ließe. Zweideutig
ist die Technik selbst, von Anfang an. Was wir ›Welt‹
nennen, existiert nur durch sie - nicht das Draußen, sondern der
Splitter, der unsere Weltvorstellung komplettiert und sich
tatsächlich malen lässt, in Farben ebenso wie in
Schriftzeichen oder Tönen. Darin kommt keine besondere Gunst zum
Tragen, allenfalls die einer guten Stunde und einer Flasche Rotwein.
Die Anmaßungen einer technikbesoffenen Kunst, einer Kunst, die
nichts anderes vorzeigt als Technik, dies aber mit jener Penetranz des
Pseudo- und Halbwissens, mit der man Schulen begründet und
Kunstrichtungen inauguriert, sind immer im Unrecht - alle Versuche, die
Technik einzudämmen, auch. /12 |