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Paul Mersmann
Das
Gewicht der Dinge |
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HOMOMARIS.
AGRIPPA VON NETTESHEIM |
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HOMOMARIS
Bis zu
welcher Leere des inneren Wissens kann das Auge eines gesetzten
deutschen Philosophen auf dem Wege einer kosmischen Verzauberung
vordringen? Schon die Chaldäer suchten den Genius des Schwärmens nicht
im Wissen des öffentlichen Menschen, sondern im Glück der verdrehten
Augen am astralen Gewölbe des Himmels. |
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AGRIPPA
Wenn weder der Morgen noch der Abend die
Zeit zu bestimmen fähig ist. Das meint die Mitternachtszeit eines
Traumes, dann bietet der Schlaf die Ebenen von Miles am Berge Lnykeus
der offenen Seele zum Wiegen an. Nur diese Übung gilt im Spiegel der
Königin aller Landschaften am Mittelpunkt des Lykäischen Gebirges als
entscheidend. Man weiß darüber wenig. Im Allgemeinen gilt es selbst den
magisch geübtesten Augen als unbetretbar. |
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HOMOMARIS
Mir ist die Gegend dieses Schlafes
einigermaßen bekannt. Sie ist zerfurcht von breiten und grünen Streifen
des Weberkorns, das die Sonnenvögel verzehren, wenn die Betrachtung des
Sehers am dunkelsten ist und der Himmel strengste Verschwiegenheit
wünscht. |
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AGRIPPA
Aber warum sollen wir darüber schweigen?
Wählen wir doch einen Umweg. Wer hat dieses Korn zu welchen Zeiten der
Nacht jener Landschaft gestiftet ? Oder: wie ging das zu, dass es ohne
die außernatürliche Anwesenheit der Naturdämonen entstanden ist? |
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HOMOMARIS
Die Anteilnahme der Seher
als Vertreter der zweiten Natur zählt in den meisten Träumen nur wenig.
Dort drüben wünscht man eine gewisse Diskretion, besonders wenn es um
Landschaften geht. In Träumen sind Landschaften sehr eigensinnig. Sie
bilden sich aus dämonischen Ansichten nach einem nicht menschlichen
Willen und so auch das künstliche Wachstum der dortigen Pflanzen.
Zumeist gibt es immer bloß staubige Plätze, Sandgebiete mit Zelten und
scheinbar ziellos herumstreunende Menschen. Nur durch sie kann das
wenige, was sich noch freiwillig denken lässt, auch gesehen werden.
Diese Menschen, falls es welche sind, tragen das Wesen der Landschaft
und vermitteln Gefühle und Stimmungen, die uns dann halbwegs geläufig
sind. |
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AGRIPPA
Dann erzähle mir doch wenigstens hiervon ein wenig. |
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HOMOMARIS
Du
musst bereit sein, an eine Form der spirituellen Malerei zu glauben,
wie sie so leicht kein Ästhet oder Wissenschaftler wünscht. Du musst,
weit entfernt von Museen und Tempeln, etwa an eine goldene Sichel
glauben, die in das Grün des Vordergrundes, wie dieser Schlaf
gewöhnlich den Sommer und den Herbst zu kennzeichnen pflegt, gelegt
worden ist, als Athene an einem Brunnen der Vorzeit Milchstippe der
Hirten aß. So erlöste sie nämlich in göttlicher Unwissenheit die
unzähligen blöden Schafsaugen der rastenden Herden, die nur erlaubten,
dass sich die goldene Sichel im Gras, ihrer schlichten Nahrung,
auflöste. Sie verschmolz mit dem Grün des Grases, bis die ersten der
immer schon abgeernteten Ähren mächtig zu wuchern begannen. Getreide
natürlichen Wachstums im Rhythmus der Jahreszeiten gibt es hier nicht.
Das lassen die Götter nicht zu. Also glich dieses fruchtlose Feld von
Anfang an den herbstlichen Farben abgeernteter Äcker vor einer
Gewitterwand. Zu Goldocker geworden, ergoss sich ein breiter
Pinselstrich dieses leeren Getreides über die untere Grenze des
schwarzblauen Horizontstreifens und lockte die riesigen Vögel, die von
der Sonne vernachlässigt werden und immer sehr hungrig sind. |
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AGRIPPA
Tatsächlich
ist das eine Landschaft wie nach Flämischen Meistern oder van Gogh, die
schließlich auch, was die Küche betrifft, völlig unfruchtbar sind.
Künstler sind keineswegs grundlos Hungerleider. Aber ich kenne
dergleichen selbst aus den seltensten Träumen nicht. Was die Erde, die
Felder und überhaupt die Natur betrifft, so hat man mir häufig genug
nur die flachen Mulden in Äckern gezeigt, in denen vermutlich die Größe
des einzelnen Menschen gemessen wird, gewissermaßen außernatürliche
Grabstätten, wahrscheinlich, um durch sie oder ihre Grabesmacht
irgendeinen unbekannten Wert an die Institute der Unterwelt weiter zu
geben. Wenngleich ich glaube, dass auch höhere Zonen an der hier
vollzogenen Prozedur lebhaften Anteil nehmen. Es strichen gelegentlich
Engel herum. Ganz ohne Zweifel gibt es eine aberwitzige
Vernunftsindustrie, die sich durchaus bedeutender Boten bedienen kann.
Nicht alles, was stirbt, war vorher bereits verblödet. Andererseits
möchte ich sagen, so wie Kinder Äffchen und Bären geschenkt bekommen,
gibt es wohl auch eine mindere Industrie, die dem Geist des Menschen
minderwertige Produkte entlockt, mit einem Wort: Plunder. Auf der
weiten Ebene voller ›Händler und Käufer‹, man kann sie kaum besser
bezeichnen, werden Luftleiber von Menschen wie Luftballons gehandelt,
man prüft sie wie Händler, man schüttelt und kneift sie und stellt sie
sogar auf den Kopf. Manchmal platzen sie auch.
Warum dieser Handel
sich unter den Augen beobachtender Abtrünniger vollzieht – denn was
sollten wir Außenseiter schon anderes sein als Abtrünnige –, ist mir
unbekannt. Jedenfalls sind Händler und Käufer bräunlichen Geblütes,
fast lederfarben, vielleicht sogar mehr Gewänderpuppen als Körper. |
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HOMOMARIS (mit Eifer)
Mumien
... die kenne ich gut. Es sind heruntergekommene Hirten, zu Händlern
gewordene Hirten. Seit Christi Geburt gibt es sie an den Stätten, da
neues Leben auf die eine oder die andere Weise entsteht. Diese ledernen
Hirten sind angeblich Zweifler an Christi Geburt und der vermeintliche
Flohmarkt ist ein Wiedergeburtsplatz. Staubig, nicht wahr, ganz wie ein
riesiger Flohmarkt?
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AGRIPPA
Genau so. |
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HOMOMARIS
Dass
wir uns hier im Maul eines Erdmeisters befinden, steht fest. Jedenfalls
vorläufig... (Lacht gequält.) Von den weiteren Prozessen, na... sagen
wir bis zur Ausscheidung, will ich nicht gerne reden. Schon der Geruch
ist übel. |
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AGRIPPA
Könnte
man sagen: ein optisches Hotel? Ein erster Ort der unangenehmen
Überraschungen für betrogene Reisende? Ein Platz ohne Mauern, mit
Zimmern ohne Grenzen. Man sieht zwar das sogenannte ewige blaue Meer,
bemerkt aber zugleich seine starre Windlosigkeit. |
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HOMOMARIS
Ja,
man wird auf Mondschiffen befördert, ich weiß aber nicht wie. Manche
Gestalten bewegen die Arme im Nebel, als wollten sie versuchen, wie
Vögel von Deck zu kommen, schaffen es aber nicht. |
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AGRIPPA
Platonische
Wirtschaft. Die allergrößte Einsamkeit, die unbekannte Beförderung
eingeschlossen ... inclusive, sagt man ja wohl in den bekannten Büros.
Aber heute ist bis in die Kirchen hinein alles platonisch. |
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HOMOMARIS
Sans
merci, das gilt mir als platonisch. Ich kannte einen Bischof, der war
viermal zur gleichen Zeit unterwegs, aber nie frei von Beschwerden, wie
es Tote gewöhnlich erleben, und selbst hier sah er niemals das Meer
oder den Himmel, obwohl es ihm wie allen anderen Reisenden zustand, er
hatte schließlich mit Seelengeld dafür bezahlt. Auch sah er nicht die
berühmten Buchten, in denen die Boote so traben, als seien es
Seepferdchen. Auf und nieder............. auf und nieder. Er sah nicht
ein einziges, obwohl die anderen Passagiere vor Lust heulten und mit
den Fingern auf die einzelnen Boote zeigten. Sie nannten sie blau und
rot und und bezeichneten den Vorgang als ein Wettrennen. Es gibt
natürlich keine Gerechtigkeit, weder hier noch da. |
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AGRIPPA
Richtig,
alles muss ja schließlich gewogen werden, was immer das heißen mag,
sogar das Wettrennen der bootsmäßigen Seepferdchen. Jede Blüte, jeder
Schmetterling, jede Mücke, ja, am Ende die Luft und das Licht. Man
fängt auch Dinge, die sonst im Jenseits nicht vorkommen, wie etwa das
reine Gold ... rein, edel, schwer von Gewicht in der Hand und doch dem
Untergang genau so geweiht wie bei uns. Nichts ist vor dem Sturz
geschützt |
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HOMOMARIS
Halt halt ...
hier beginnen wir uns ein wenig zu gleichen. Hier gehen wir ja schon
fast ineinander über. Hier beginnt das alte Christusgebiet, das unsere
Sphäre bestimmt. Kollektive Gerechtigkeit, Strafe, Geldgier, Besitz,
Lüge, Moral, Mord und Totschlag. Alles geht genau wie bei uns drüben
auch dem nächsten Untergang entgegen. Wobei dort, wovon wir ja in
geteilter Meinung geredet haben, nur alles viel langsamer vor sich
geht. Das Jenseits kennt noch den alten Begriff der Zeit. Tausende und
abertausende Jahre geht die Erdgeschichte ihren Gang durch alle Epochen
von unten und oben. Daher die Seher von Hölle und Ewigkeit reden. Aber
Ewigkeit könnte ein Irrtum sein. Alles zieht sich bloß viel unendlicher
hin. Daher der Ausschnitt in den erwähnten Träumen von Rang, der immer
nicht ablaufen will. Alles steht irgendwie still und ist immer nur ein
Ausschnitt dieser Unendlichkeit. |
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AGRIPPA
Übrigens
so auch jedes gemalte Bild, jedes Stück Dichtung, es ist Zeit ohne Maß,
Ausschnitt, zusammengesetztes Stück aus dem zerhackten Dasein. Kein
Bild von Rembrandt oder Tizian oder Picasso, besonders von Picasso, das
nicht im Stillstand doch unterwegs ist. Aber wir stehen davor und
denken, es stünde still. Welch ein Irrtum, es unterliegt nur der
anderen Zeit. In zwanzig Millionen Jahren finden es Seher in einem ganz
anderen geomantischen Schema. Ich sprach schon einmal darüber im Kreise
der großen Mütter und Töchter von Malern und der Töchter und Mütter von
Dichtern oder sogar erhobenen Tieren, was eine noch viel größere
Unendlichkeit erfordert. Sie alle meinten, jeder Maler und Dichter male
und schriebe einen Deckel für die leeren Fässer der Unterwelt, die
unendlich langsam unterwegs sind. Noch immer gerollt von sündigen
Sklaven dieser horriblen Orte. Wer weiß, wo man selber landet mit all
seinen Werken. Also – folgen auch wir wieder der augenblicklichen Zeit,
die man uns zugemutet hat. Adieu, bis zum nächsten Gespräch. |
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Paul Mersmann
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Text und Bild: © 2008 Paul Mersmann Signet: Die Spielscheiben der Henkersknechte sind voller Tücke
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