Grabbeau
Paul Mersmann
Anmerkungen zu den Aurelia-Radierungen
← Paul Mersmann Die hier vorliegenden Illustrationen verdanken ihr Entstehen einer alten Neigung zu diesem geheimnisvollen und kostbaren Werk phantastischer Literatur, dessen tragische Ängste, poe­tisch verschlüsselt, der kollektiven Psychologie keinen unmit­telbaren Einlaß gewähren.

Vor über dreißig Jahren las ich die Aurelia zum ersten Mal. Die Fülle der Bilder, auf die ich stieß, beeindruckte mich tief und nachhaltig. Auf dem Weg einer früh beschlossenen Abkehr vom politisierten Rationalismus jener Tage begeisterte mich die unabhängige Traumwelt kühner Assoziationen, die auf dunk­len Flügeln jeder Wandlung des Geistes bereitwillig folgen. Unbeschwert von den breiten Strömungen antiromantischer Ver­dächtigungen stand ich schon damals unter dem Einfluß Brentan­os, Arnims, Jean Pauls, Novalis und Kafkas, nicht zu vergessen Schopenhauers.

›Verwilderte Romane‹ wie der Godwi oder die Kronenwäch­ter waren meinem Verständnis für die Aurelia oder die Gesän­ge Maldorors vorausgegangen und beeinflußten meine eigenen literarischen Versuche. Die französische Romantik, fast aus­schließlich über Goethe und E.T.A. Hoffmann entwickelt, zeigt sich aber in Graphik, Malerei und Musik viel deutlicher noch, als bei uns, als sentimentale Tendenz des ›style gothique‹, der bürgerliche Züge eines Genusses trägt, an der seine Ver­spätung Schuld sein mag.

Auch bei Nerval finden wir seltsam ermüdete Züge der Dekorati­on oder besser des Vortrags. Aber es herrscht doch zugleich ein kalter und klarer Ton, der die stets literarisch gesuchte Analyse in tragische Einsamkeiten verlegt, die auswegslos in Bilder zerfallen, die nicht mehr zu ordnen sind.

Ich habe diese Tendenz der verzweifelten Flucht in der immer wiederkehrenden Gestalt Nervals mit Spazierstock, Zylinder und Gehrock auszudrücken versucht.Allein, Nerval ist auch Opfer einer viel tieferen und hierin der deutschen Romantik gleichenden Erfahrung vom Bruch der Vernunft, die damals in der neuen Freiheit zu Gunsten der Kunst zugleich auch tra­gisch dem Aufbruch der Wissenschaften im Wege stand. Als Radierer in den Dienst dieses edlen und dunklen Werkes zu treten war mir eine große Ehre, da ich bis heute in der wohlberechneten Ablehnung, ja Verdächtigung der Romantik den Schlüssel zum Untergang der freien Gestaltung der Künste sehe, die einst der zweiten Natur des Menschen gedient haben. Wenn die technische Wirklichkeit unserer Tage in einem natura­listischen Drama des entgeistigten Menschen endet, wird die eigentliche, die menschliche Pflicht, im Chaos zu formen, den Gewißheitswahn kollektiver Einfalt aufs neue in Frage stel­len.

Eine gewisse Zertrümmerung der petit-raison von 1789, eine Pulverisierung der seit der Antike grammatikalisch geordneten Vernunft der Sprache ist zweifellos der gefährliche Gewinn einer künstlerischen Freiheit, die das Denken jener kurzen Epoche gewissermaßen aufgelöst und poetisiert hat.

Es ist hier nicht der Ort, den Anfang eines solchen Bogens von Rabelais und Fischart, von Bach bis Schumann, von Hölderlin bis Morgensterns Galgenliedern zu untersuchen. Es sei nur flüchtig auf eine Form des schöpferischen Wahnsinns hingewie­sen, der ja bis heute bei Hölderlin für Verwirrung des Ur­teils gesorgt hat.

Der für Frankreich geradezu klassische Bezug Nervals zu Goethe, seine in früher Jugend unternommene Übersetzung des Faust, die den alten Goethe beeindruckt hat, und nicht zuletzt der Tod der Mutter Nervals im fernen Deutschland bilden den Hintergrund einer tragischen Stimmung, die auch die Rheinro­mantik berührt.

»Eines Tages glaubte ich ganz bestimmt an die Ufer des Rheins versetzt zu sein...« In der zu diesem Komplex gehörenden Radie­rung habe ich die Landschaft und den Greis, der das Land be­stellt, ausgewählt, weil er zuvor mit der Stimme eines Vogels mit ihm gesprochen hat. Dies schien mir ein Beispiel atavi­stischer Weisheit in der Zentralfigur einer Ahnengestalt Ner­vals, die auch die Gestalt ›gewisser Tiere‹ annehmen kann.

Ich weiß nicht, wieviele Radierungen ich hätte machen können, wenn ich mich auf die langen, verwandlungsreichen Spaziergänge Nervals durch Paris eingelassen hätte. Dies nicht getan zu haben, bedauere ich, wie ich überhaupt einen gewissen Schmerz der Enttäuschung nicht unterdrücken kann, der mich jetzt, nach fünfunddreißig Radierungen, in der Frage befällt, ob und wie weit ich dem Reichtum der Bilder gewachsen gewesen bin. Ja, ich könnte mich anheischig machen, dieses Werk noch fünfmal zu radieren, ohne zu langweilen.

Der Glaube, einem hochverehrten Freund zu wenig zurückgegeben zu haben, ist psychologisch verständlich und ein unerlöstes Gefühl der Pflicht. Welche tiefe ›orientalische‹ Bedeutung hat für mich die Erwähnung des ›Elfenbein- oder Horntores‹ gleich am Anfang des Werkes. Es verbindet sich hier die Andeutung einer geträumten Erweckung mit der Legende vom stumpfen Klang eines Holzes, der den zen-buddhistischen Mönch schlagartig erleuchtet. Was habe ich hiervon treffen können?

Welch ein gotisches Bild von den ›Drei Marien‹, die so sehr an französische Dome erinnern, die er gewiß auf seinen Streif­zügen besucht haben wird. Überhaupt ist die Klage über den Verlust der naiven Religion als Folge des intellektuellen Zweifels unüberhörbar. Auch ist die Idealisierung Aurelias selbst eine religiöse, von Schuld und Sühne geprägte Last des Herzens, die poetische Kindlichkeit atmet. Auf diesem Wege finden wir auch jene keltische Seite der dunklen Dreigestalt, die als große Mutter zu deuten ist, die in sich selbst alle weiblichen Formen verkörpert und mütterliche Macht besitzt, Qualen der Schöpfung und Zeugung zu verbreiten. Auch diese Gestalt ist ein unausdenkbarer Stoff für zahllose Bilder.

überhaupt ist die dunkle Katholizität des Werkes als Quelle eines frühen Surrealismus unübersehbar. Sie stellt sich einer pragmatisch beschränkten Vernunft in den Weg und verliert, gemessen am Zeitgeist der Aufklärung, rasch den Boden unter den Füßen.

Durchaus verstehe ich Nervals Zerrüttung als tiefe Verwirrung der gesamten Romantik am Aufstieg des Naturalismus. Selbst der Impressionismus, den Wilde in seiner genialen Kenntnis der Kunst als ›einfältiges Suchen um die Retina‹ bezeichnet hat, beschädigt die künstliche Freiheit des romantischen Menschen nachhaltiger, als uns die blühenden Wiesen an der Seine verraten, denn sie beschwören die Photographie bis auf den heutigen Tag. Hier liegt der tragische Kern der gewollten Künstlichkeit der Romantik, die Dürer verehrt und Daguerres Versuchen begegnet.

Der am Ende nicht mehr vertretbare, nicht mehr geschützte und schließlich nicht mehr geduldete Schöpfer-Phantast der gestal­teten Unwirklichkeiten des Geistes scheitert in der Romantik mitsamt der noch einmal aufs tiefste gesuchten Religion an der neuen Einfalt photographischer ›Wirklichkeit‹.

Wenn man auch heute vermuten darf, daß für uns, in tieferer Hinsicht, die Tribunale der alten Vernunft geschlossen sind, so leben die Künstler noch immer beschattet genug von der Un­duldsamkeit pragmatischer Dogmen, die uns über das Bauhaus hinaus verfolgen, gerade so als hätte es die Unschärferelati­on Heisenbergs in all ihren Folgen für die vermeintliche Be­rechenbarkeit des Lebens nie gegeben.

Was aber jene Geister betrifft, die schon früh der Aufklärung widersprachen, so wurden sie, wie Brentano nach seinen Auf­zeichnungen der Visionen Anna Katharina Emmerichs, kurz und entschlossen aus dem Kreis der Gebildeten verstoßen. Ich erinnere mich, dieses seltsame Werk in Devotionalienläden gefunden zu haben.

Solange im künstlerischen Prozeß der freien Gestaltung der Wirklichkeit der Verlust des Verstandes ebenso angedroht wie gefürchtet wird,bedarf es zu solcher Kunst eines immensen Aufwandes theoretischer Entlarvungen jener großen Macht des vermeintlichen Wissens, die uns kollektiv noch immer bedrückt.

Unter solchen Aspekten an der Seite Nervals gedacht und gestaltet zu haben, war mir Auftrag und Zukunft genug.


Wiesbaden, den 2. Dez. 1995