GRABBEAUMUSEUM IM NETZ  Gang grün »

Anne Corvey
Doro Breger

Auswahl (mp3)
Nur der Irrtum ist das Leben
1.

Greiner, ärgerlich und wieder einmal unzufrieden mit dem Ergebnis seines Nachdenkens, zieht die Tür hinter sich ins Schloss. Er braucht Bewegung, um die Gedanken erneut in Gang zu setzen. Zwei, drei Stunden am Schreibtisch und sie traben im Kreis. Niedlich aufgezäumte und herausgeputzte Lippizaner. Brav und adrett drehen sie unter der Peitsche des Direktors ihre Runden in der Manege, servieren dem Publikum die einstudierten Kunststückchen. Unbrauchbar für einen vernünftigen Ausritt. Greiner lenkt die Schritte in Richtung des Parks, dessen Eingang sich unweit seiner Wohnung befindet. Ein grüner Gürtel rund um die Hälfte der Stadt, die diesseits des Stromes liegt. Sie bietet das, was man bei Hunden Auslauf zu nennen pflegt. Greiner saugt die frische Luft ein und atmet tief durch. ›Grüne Lunge‹, so nannte man hier und anderswo in den 70ern solche Anlagen. Wie mochten sie vorher geheißen haben? Er kann sich nicht erinnern. Zu jung damals.

2.

Rauchende Schornsteine, Wäsche, die bereits auf der Leine verschmutzt, finstere Gebäude, Scharen grauer, verbrauchter Gestalten, die, nie völlig ausgeschlafen, hastig Fabriktore passieren. Ein wüstes Szenario entfaltet seine ungute Wirkung unter der Dunstglocke des Gehirns. Lebensgefühl, nie als eigenes erfahren. Betrachtet man die Menschen in den Straßen der Stadt, so scheint es nicht mehr vorhanden. Locker und leicht, ja, ›easygoing‹, präsentiert sich die Menge dem flanierenden Blick. Eine Reise in eben diesen 70ern in einem von SPD-Funktionären überfüllten Bus – beim ASTA-Reisebüro hat er sie gebucht und einen Haufen lustiger und diskussionsbereiter Kommilitonen erwartet – brachte ihn nach Prag. Dort hat er solche Bilder mit eigenen Augen gesehen. Oder stammen sie doch aus dem Kino? Damals ist er sich vorgekommen, wie in einem Film, dem falschen vor allem. Gott-sei-Dank lag der ›eiserne Vorhang‹ dazwischen, der allerdings – auch das längst wieder Vergangenheit – dem Vorbild des eisernen Heinrich gefolgt ist.
3.

Halt, halt ...! Beim Joggen lässt er den Gedanken die Zügel locker. Zusammen mit den Endorphinen, die sein Körper ausschüttet und deren tägliche Dosis ihm inzwischen unverzichtbar ist, produzieren sie ein gutes Gefühl, suggerieren ›Power‹. Puh, diese englischen Modevokabeln machen sich langsam aber sicher auch in seinen Sätzen breit. Noch einmal tief durchatmen, ›die grüne Lunge‹. Den Ausdruck hat er schon länger nicht mehr gehört. Das soziale Spiel, auch Gesellschaft genannt, hat sich tiefgreifend gewandelt und mit ihm die Formeln, die seine Mitglieder stimulieren, sie bei der Stange halten sollen. ›Die grüne Lunge‹, das Organ für die arbeitende Bevölkerung. Man kann den Wandel, der – ob das eine Frage des Alters ist? – sein Tempo immer mehr zu erhöhen scheint, an den wechselnden politischen Vokabeln recht gut ablesen. Eigentlich ein Thema für eine Doktorarbeit. Wirklich hübsch, die Studentin. Sie hat seine letzten Sprechstunden – wieder einmal läuft der Vertrag aus, die Habil ist immer noch nicht fertig und er hat nicht die geringste Ahnung, wie es weitergehen soll – mit Glanz versehen. Und intelligent, sicher doch. Sie wäre die geeignete Kandidatin. Hat sie nicht gerade Examen gemacht und ist auf der Suche nach einer neuen Aufgabe? Merkposten!

4.

Das Kalenderblatt auf dem Schreibtisch zeigt den 26. August 1996. Vor zwei Tagen hat er mit einem ersten Anflug von Unbehagen seinen 45. Geburtstag mehr erlitten als gefeiert. Greiner ist der Typ, den man als jugendlich zu bezeichnen pflegt. Mittelgroß, das rötliche Haar füllig und leicht gewellt, weist sein sportlich gestählter Körper, auf den er in gewisser Weise stolz ist, da er an die Wahrheit vom ›mens sana in corpore sana‹ unbedingt glaubt, kein Gramm überflüssigen Fettes auf. Ein Vorbote jener Fitnesswelle, die um die Jahrtausendwende einen bis dahin ungeahnten Aufschwung erfahren wird. Er kleidet sich eher konservativ, so gut die stetig wechselnde Fülle seines Geldbeutels es erlaubt. Ganze fünfzig Seiten hat er noch zu schreiben und doch erweist sich diese Aufgabe nicht als Endspurt, sondern als erneutes Schultern des Brockens, den er schon hundertemal auf die Spitze des Berges zu heben versucht hat. Für das kommende Semester hat er einen unbezahlten Lehrauftrag übernommen. Leben muss er von dem, was seine Freunde aus der Berliner Künstlerszene ›Stütze‹ nennen. Die Freundin, deren unaufdringliche Anwesenheit ihm nach einer ›gescheiterten‹ Ehe – die ›Abwicklung‹ hätte er damals lieber der Treuhand überlassen – Momente eines ruhigen Glücks beschert hat, ist mit so einem Typ, einem Tänzer, nach Südamerika auf und davon. Den Bürojob einfach gekündigt, von einem Tag auf den anderen. Dem Tango will sie ihr Leben widmen. Davon verspricht sie sich tiefgreifende und persönlichkeitsformende Wirkungen. Eine Welle, die ebenfalls zum Ende des Jahrtausends einen Höhepunkt erreichen wird.
5.

Mit dem Ich ist der ›Punkt‹ erreicht, an den sich die intensivste Sorgfalt – möglichst ständig – verströmen möchte. Noch nie hat jemand sein Bewußtsein geliebt, wohl aber sich – in ihm; die eitle, dumme, immergrüne Selbstliebe strahlt durch das Bewußtsein auf seinen vertrauten Kernpunkt, sie hegt und pflegt die scheinbare Unbezogenheit eines Zentrums, dem der Prozeß des Bewußtseins und damit die in ihm erscheinende Welt wie ein gefälliges Film-Szenario vorkommen möchte, obwohl diese keineswegs an ihm bloß vorbeischwebt, es unberührt läßt, sondern ganz im Gegenteil bestimmend, es fordernd, sich diesem einprägt, einvermittelt. Das Ich, die sedimentierte Geschichte des Bewußtseins, seine Selbstinkarnation, hat die gewisse Festigkeit, die allem eignet, dessen Entwicklung zurückliegt; aber es ist zugleich wesentlich fragil, sein Sosein steht ständig auf dem Spiel, es zittert in den unberechenbaren Winden, die ihm nicht eo ipso vertraut sind, sondern u. a. der Zukunft des ganz Anderen sich verdanken.

Da lehnt dieses Ich, einen Arm aufgestützt, die Hand hält den Kopf, einen Fuß auf die Verstrebung des Tresens gehoben und schaut in die Runde wie Gary Cooper in ›High Noon‹. Es hat sich vorgenommen, die Blondine am entgegengesetzten Ende des Tresens abzuschleppen, die – inzwischen schon ein wenig angeschäkert – diese kieksenden Lacher ausstößt, während sie mit ihren Händen den straff über den Po gespannten Rock glättet. Eine aufreizende Geste. Das Ich kippt sein Bier herunter und schlendert, betont beiläufig, den flotten Spruch schon auf die Lippen bugsiert, zu ihr hinüber.

6.

Die Nacht ist wohl nicht der tosende Erfolg geworden, den Greiner sich versprochen hat. Am Morgen erwacht er mit heftigen Schmerzen in der linken Kopfhälfte. Zu spät haben sie den Abflug geschafft, zuviel getrunken. Die Blonde steht in der Küche – immer noch kieksend, was ihm nun unendlich blöd vorkommt – und kocht, dem Geruch zu folgen, Kaffee. Die Schwaden ziehen ... In letzter Zeit passiert ihm das häufiger, mitten im Nachdenken über seine Arbeit gleitet er in solche Szenen. Mit den Sauf- und Anmachetouren muss es ein Ende haben, das schadet nicht nur der Gesundheit. Warum hat Elvira ihn auch so schnöde verlassen? Der Auftritt, den sie vor ihrem Abgang hinlegte, ist ihm noch in unguter Erinnerung. Die Kollegen an der Uni verhalten sich, als leide er an einer ansteckenden Krankheit. Und auch Lützow, der ›Alte‹, wie er bei den jüngeren Hilfskräften und Assistenten heißt, ist sparsam geworden mit aufmunternden Worten und dem berüchtigten Schulterklopfen, das Greiner jahrelang abzustellen wünschte. »Sie berechtigen zu den schönsten Hoffnungen, junger Mann. Ich setze auf sie!« Wie lange ist das her?
7.

Greiner steht auf, legt eine Elvis-CD ein und dreht die Lautsprecher auf volle Stärke. In the Ghetto! Eine Welle von Selbstmitleid durchflutet ihn. Wie oft haben Karolas Blicke vom Schreibtisch in der gemeinsamen Studentenbude aufmerkend, zärtlich und stets auch ein wenig mitleidig seine Gestalt gestreift, war es wieder einmal so weit. Wie er sie vermisst, immer noch. Eigentlich weiß er bis heute nicht so recht, warum die Sache schief gegangen ist. Sie ist eine Frau mit Prinzipien und die ›akademische Ranschmeisse›, wie sie sein Bemühen um die Unilaufbahn in der letzten Phase ihrer Ehe nur noch verächtlich und doch mit einem Unterton von Trauer nannte, mag wohl letztlich den Ausschlag gegeben haben. Kein Kontakt mehr. Eine Postkarte aus Italien, vor vier Jahren, war das letzte Lebenszeichen. Karola hat Rosinen im Kopf, leider brotlos, aber süß ist sie gewesen. Er hat es geliebt, wenn sie von hinten leise herantrat, die Arme um ihn schlang und ihm ihre neuesten Ideen ins Ohr flüsterte. Greiner dreht hastig die Musik ab und kehrt an den Schreibtisch zurück. Aus, Schluß, vorbei! Er muss sich Gedanken über seine Zukunft machen. Noch so ein Brief wie heute morgen und seine Reserven sind aufgebraucht. Er kann sich keine Sentimentalitäten leisten, die Arbeit wartet.

8.

Wann immer der Charakter, dieses durchgebildete System der Erfahrungen, die in ihm verfügbar und fortsetzbar bleiben, den Forderungen des Augenblicks nicht gewachsen ist, d.h. daß das inkorporierte, habitualisierte Erfahrungssystem nicht mehr zu interferieren in der Lage ist, zerbricht die Einheit von Ich und Bewußtsein: Dies führt notwendig zu kaum erträglichen Irritationen, letztlich aber zur Angst, dem reinen Bewußtsein, das ihm selbst entgleitet, sofern seine Gestalt und Bestimmtheit im Hintergrundich, das augenblicklich interferierend Vordergrund wird, da ist, aber bloß in ihm selbst erregt, ohne Bewegung auf Zukunft, also verschlossen, sofort verschwindet. In Angst und Schrecken erleidet das Bewußtsein die Lähmung der Fessel des Augenblicks bloßer Bewußtheit, die Reduktion auf bloße Reaktivität.

Greiner schließt die Tür hinter sich – diesmal ganz leise und vorsichtig. Auf Zehenspitzen hat er G9 verlassen, den kleinen Hörsaal, in dem Petra F., die – ›ehemalige‹ muss er nun wohl sagen – Kollegin aus dem Nebenfach an diesem Morgen ihren mitreißenden Vortrag hält. Er will auf gar keinen Fall Aufsehen erregen. Mitreißend ist weniger der Inhalt, das ist in seinen Augen abgestandenes Zeug, doch schick aufbereitet, mitreißend ist die Präsentation. Wirklich erste Sahne! Vom Outfit bis zum unangekränkelten Selbstbewußtsein stimmt einfach alles, und die Studenten lassen sich sichtlich einfangen. Greiner eilt in die Cafeteria und bestellt einen doppelten Espresso. Ist es soweit, beginnt er bereits die Kollegen zu beäugen? Formt sich das, was er selber in seinen Hochzeiten ein Outcast-Bewusstsein genannt hat, mit naivem Stolz und wie er nun erfahren muss, ein wenig voreilig von den Höhen seiner Vorschusslorbeeren herab. Eine glänzende Karriere hatte man ihm prognostiziert.
9.

Greiner entstammt einer ›kleinen Beamtenfamilie‹. Gute Zeugnisse und ein adrettes Auftreten – die stets zierlich gedrechselten und Lob heischenden Sätze verraten das altkluge, nur von Erwachsenen umgebene Kind – geben der Mutter das befriedigende und ihre Bemühungen ins Bodenlose anstachelnde Gefühl, ihr ›Junge‹ sei zu Höherem berufen. Glänzendes Abitur, Stipendium, Examen mit Auszeichnung, erste Anstellung an der Uni, Dissertation »summa cum laude«: Fakten, die Stationen des geradlinigen Erfolgs zu markieren scheinen. Einzig Karola, der Mutter vom ersten Tag an ein Dorn im Auge, bezeichnete ihn als eilfertigen Hamster im akademischen Tretrad. »Dein Erfolg beruht nicht auf eigenen Gedanken, er fußt in der Tatsache, dass du es glänzend verstehst, bis zur eigenen Unkenntlichkeit, in die Hirnwindungen sogenannter wichtiger Leute zu kriechen. Erfolg ist wohl eine Droge, und du bist süchtig, mein Lieber.« Das war der Anlass für ihren ersten heftigen Streit. Greiner hat sich tief gekränkt und – verkannt gefühlt. Schließlich ist er nicht durch Mitläufertum aufgefallen, sondern durch seine hervorragenden kritischen Beiträge. Er fühlt sich dem linken Spektrum zugehörig, ein Nachgeborener dieser 68er gewissermaßen. »Du machst dich abhängig von diesen Herrschaften, vom Betrieb, mental abhängig. Schau dich doch erst einmal um in der Welt, bilde eigene Grundsätze aus. Intellektuell sein, heißt unabhängig denken.« Aber Karola hat, da ist nichts zu machen, Rosinen im Kopf. Was weiß sie schon vom Leben, dem ›wirklichen‹. Zuerst gilt es eine Position zu erreichen, von der aus man unabhängig und selbstbestimmt agieren kann. Frauen haben es da leichter, die können sich notfalls in die Beziehung flüchten, Kinder in die Welt setzen. So oder so ähnlich laufen ihre Tagesgespräche. Die Dunkelheit, er erinnert sich wehmütig, die Geborgenheit des gemeinsamen Bettes hat anderes zutage gefördert. Den Kopf in Karolas Armen versenkt, ist – wie sie damals noch lächelnd und liebevoll bemerkte – die ›Nachtseite‹ seiner Existenz zutage getreten. Die Pillen, die er während des Abiturstresses geschluckt hat, aus ständiger Furcht vor dem Versagen. All die Ängste, die er nie hat äußern dürfen. Selbst das Essen ist rationiert gewesen, da er – wie der Vater – bereits als Kind ein wenig zur Fülle neigte. Der Druck, den die halbjährlich zu verfassenden Erfolgsmeldungen während des Studiums (alles hat seinen Preis, auch ein Stipendium) ihn ihm erzeugten. Die Flucht nach Marburg, in die Stille des Archivs während der Promotion. Damals sah er sich stundenweise selber durch Fabriktore eilen, fahl und verbraucht, in ständiger Sorge um seine Subsistenz. Dem Ehrgeiz der Mutter sei er zum Opfer gefallen, hat Karola diagnostiziert. Er solle erreichen, was der Vater nicht ›gebracht‹ habe, dem Leben der Mutter Glanz und Bedeutung verleihen. Greiner steht auf und eilt nach draußen in Richtung der Grünanlagen, die die Alma Mater – die Verlängerung des Ehrgeizes der Mutter – weiträumig umgeben. Dieser Ehrgeiz steht ihm auf jene Weise ins Gehirn geschrieben, in der Adlige früherer Zeiten ihr ›Noblesse oblige‹ in die Unterwäsche gestickt trugen (feingestickt, wie der Dichter es so treffend benannt hatte). Oder, anders ausgedrückt, er ist sozusagen in der Wolle gefärbt akademisch. Ist das wahr? Ein anderes Leben kann er sich einfach nicht vorstellen. Seit ein paar Wochen hat er sich wieder angewöhnt, lange Spaziergänge zu machen. Karola lehnt das Joggen ab, nicht nur weil es eine Mode zu werden verspricht. (Seit Karola ihn ausgelacht hat auf einem seiner Erkundungsgänge durch die süddeutsche Universitätsstadt – Professorenvillen hatte er sich angeschaut, sehnsüchtig und hoffnungsvoll – joggte er lieber, um sich zu entspannen und die Gedanken in Bewegung zu setzen.) Nein, es entspräche nicht dem Rhythmus ihres Denkens. Sie haste nicht irgendwelchen Theorien hinterher, die gerade en vogue seien. Das Gehen sei der Erzeugung der Gedanken gemäßer, die Praxis der Peripatetiker - Karola studierte Italienisch, Philosophie und Kunstgeschichte - sei ihr da ein Beispiel. Die Gute, irgendwie ist sie nicht von dieser Welt oder passt wohl auch nicht in seine. Schade eigentlich!
10.

Greiner saugt die frische Luft tief ein. Der alles umspannende Beton, das künstliche Licht in den Hörsaal- und Seminargebäuden erzeugen – neuerdings – binnen kurzem in seinem Gehirn einen anhaltenden Unterdruck. Abgeschottet, wie in einer Taucherglocke. In diesem Zustand läßt es nur minimale Bewegungen zu, sonst wird ihm schwindlig oder schwarz vor Augen. Entzugserscheinungen? Sicher das fehlende Joggen, zu dem er sich nicht mehr hat aufraffen können. Greiner blickt an sich hinunter, sein Körper weist schon erste Spuren auf. Irgendwie labbrig und schlaff. Der Leib ist nicht die Hülle, ein Anderssein zum Ich außer ihm, sondern seine Weise zu sein. Nur so ist es zu verstehen, daß es leibliche Ausdrucksformen des sich ausdrücken müssenden Ich geben kann, die es selbst als genuin versteht, als für sich unverzichtbar erachtet, und die, ganz zu Recht selbstverständlich, von anderen Individuen spontan als Äußerungen des Kerns erfaßt werden. Nur so ist es auch begreiflich, daß es im oder auf dem Leib räumlich fixierbare schmerz- oder lustvoll erlebbare Ereignisse als seine eigenen erfahren kann und muß. Es hat nicht einen Leib – an sich, sondern es ist Leib in seiner körperlichen Erstreckung, Entfaltung, und Determination. Zugleich aber ist es vom Leib, obwohl ganz in ihn eingesenkt, doch auch wesentlich verschieden. Sich dieses Leibes entledigen, reiner Gedankenfluss werden! Ein Fluss ohne Bett existiert nicht. Ohne Gefäß zerrinnen die Gedanken, ungedacht. ... Todesgedanken. Tod der Gedanken. Gedankentod. Tod ... Verflossen. Unverflossen. Es beginnt heftig zu regnen. Greiner steht mit ausgebreiteten Händen. Hilflos schaut er dem Wasser zu, das durch die Finger rinnt: nicht zu halten. Kein Ergreifen hält es fest. Greiner wird übel. Er erbricht sich. Lange und ausgiebig, bis nur noch grüner Schleim kommt, der gallig in der Kehle brennt. Jetzt ist auch sein Anzug beschmutzt. Hastig wischt er die Spuren des Erbrochenen mit einem zusammengeknäuelten Tempotuch, das er aus der Tiefe der Jackentasche hervorholt, weg. Er schaut wieder an sich hinunter und sieht einen Umschlag auf dem Boden liegen. Heiss durchfährt es ihn. Der Brief der Mutter, den er vor ein paar Tagen erhielt. Er hebt ihn auf und zerreisst ihn zu winzigen Schnipseln, denen er mit einem heftigen Schwung die Freiheit verleiht. Wenn Karola ihn jetzt sehen könnte. Er wird das Erbe ausschlagen. Er muss es ausschlagen, zu überwältigend das Vermächtnis, zu einschnürend die Hoffnungen und Wünsche. Er wird sich freilaufen. Karola wäre stolz auf ihn. Wo sie wohl sein mag? Ob sie noch an ihn denkt? Er wird versuchen ihre Adresse herauszubekommen. Er wird ihr schreiben. Aber was? Das hat Zeit. Wenn es soweit ist, wird er es wissen. Die Selbstmordgedanken haben ihn auf den Boden der Realität zurückkatapultiert, einer Realität, die er für sich neu gestalten muss. Er wird das alte Manuskript herausholen. In der Tiefe seines Schreibtisches liegt es begraben, niemandem hat er es bis jetzt gezeigt. Nicht einmal Karola. O, sie hat ja gar keine Ahnung, wer er eigentlich ist, aber er wird es allen zeigen. Zeuge wird er sein. Zeugnis ablegen von der Absurdität der Welt und der Grausamkeit des Betriebs, die einen in den Klauen hält und jedes Organ einzeln Stück für Stück auflöst. Nein, der ›Benzinkanister‹ ist kein Weg (jener Pfarrer – wie war sein Name doch gleich, Koldehoff oder so ähnlich – hatte ihn damals als er noch las, Literatur, tief beeindruckt) und die ›Sense‹ war nicht für ihn gedacht. Er würde die Habil verbrennen und – selbstgefällig und innerlich erfrischt macht er auf dem Absatz kehrt und eilt in Richtung seiner Wohnung – die früh begrabenen literarischen Ambitionen weiter verfolgen. Ein Roman soll es sein und er wird sie alle beeindrucken, ganz ganz tief. Die Auflagenzahlen rattern in seinem Geiste in schwindeleregende Höhen. Der fremde Ehrgeiz kann ihm gestohlen bleiben, er wird seiner Berufung folgen. Das ist der sicherste Weg zum Erfolg. Schon sieht er den Nobelpreis aus der Ferne auf sich zuschweben, als ein heftiger Schmerz ihn durchzuckt. Im Fallen noch reißt er den Arm vors Gesicht. Das letzte, was in sein Bewußtsein dringt, ist die Sirene des Krankenwagens. Die Freiheit des Bewusstseins ist keine feste naturale Größe, die wie ein Himmelsgeschenk in Anspruch zu nehmen ist, sondern das langsam sich entwickelnde Produkt der Arbeit des sich überall hin ausbreitenden und konzentrierenden Geistes in seinen Ausgestaltungen, das seine Phantasien bezüglich der Überbrückung des Hiats zwischen Ich und Welt auszugestalten vermag.
© 2007 Bilder: Doro Breger; Text: Anne Corvey
Erstdruck Text: Zeno H 23, 2001, S. 35-43